Fortan öffnete Joey, der sich Jonathans Beschwerde zu Herzen nahm, die Fenster. Gleich am nächsten Tag rief er Connie wieder an, zwei Tage danach erneut. Still und leise legte er seine vernünftigen Argumente gegen allzu häufiges Telefonieren ad acta und gab sich dankbar dem Telefonsex als Ersatz für seine einsamen Bibliotheks-Masturbationen hin, die er jetzt für trostlose Verirrungen hielt, zu peinlich, um sich daran zu erinnern. Erfolgreich redete er sich ein, dass es, solange sie das gewöhnliche Geplauder über Neuigkeiten mieden und einzig und allein über Sex redeten, schon in Ordnung sei, dieses Schlupfloch in seinem ansonsten strikten Embargo überflüssigen Kontakts zu nutzen. Als sie es jedoch weiter nutzten und der Oktober in den November überging und die Tage kürzer wurden, merkte er, dass ihr Kontakt dadurch, dass er Connie nun benennen hörte, was sie alles schon getan hatten und ihrer Vorstellung nach noch tun würden, desto tiefer und realer wurde. Diese Vertiefung war irgendwie merkwürdig, da sie einander doch nur zum Orgasmus brachten. Im Nachhinein aber schien ihm, als hätte Connies Schweigen in St. Paul eine Art schützende Barriere errichtet: ihren Kopulationen etwas verliehen, das sich, in der Sprache der Politiker, glaubhaft abstreiten ließ. Die Erkenntnis, dass Sex bei ihr jetzt voll als Sprache angekommen war — als Folge von Wörtern, die sie auszusprechen vermochte — , machte sie als Mensch für ihn viel realer. Beide konnten sie nun nicht mehr so tun, als wären sie einfach nur stumme jugendliche Tiere, die stumpfsinnig ihr Ding durchzogen. Wörter ließen alles weniger sicher sein, Wörter hatten keine Grenzen, Wörter schufen sich ihre eigene Welt. Eines Nachmittags wurde Connies erregte Klitoris, ihrer Beschreibung zufolge, volle zwanzig Zentimeter lang, ein hervorstehender Stift der Zärtlichkeit, mit dem sie sanft die Lippen seines Penis teilte und sich bis zum Sockel seines Schafts hineinschob. An einem anderen Tag beschrieb Joey, auf ihr Drängen hin, die glatte warme Reinheit ihrer Würste, die, als sie aus ihrem Anus glitten und in seinen offenen Mund fielen — schließlich waren es ja nur Wörter — , wie vorzügliche dunkle Schokolade schmeckten. Solange ihre Wörter in seinem Ohr waren und ihn anspornten, schämte er sich für gar nichts. Drei-, vier-, ja sogar fünfmal die Woche kehrte er zu dem Wurmloch zurück und verschwand in der Welt, die sie beide geschaffen hatten, tauchte später wieder daraus auf, schloss die Fenster und ging in den Speisesaal oder hinunter in den Aufenthaltsraum, wo er mühelos die seichte Leutseligkeit zeigte, die das Collegeleben von ihm verlangte.
Es war, wie Connie gesagt hatte, doch bloß Sex. Die Erlaubnis, die sie ihm gegeben hatte, auch anderweitig danach zu streben, beschäftigte Joey sehr, als er mit Jonathan zu Thanksgiving nach NoVa fuhr. Sie saßen in Jonathans Land Cruiser, den er zu seinem Highschool-Abschluss geschenkt bekommen hatte und, in offener Missachtung der «Im ersten Studienjahr kein Auto»-Regel, immer außerhalb des Campus parkte. Aus Filmen und Büchern hatte Joey den Eindruck gewonnen, dass etliches, und zwar schnell passieren konnte, wenn Studenten an Thanksgiving losgelassen wurden. Den ganzen Herbst über hatte er es sorgfältig vermieden, Jonathan nach seiner Schwester Jenna zu fragen, da er sich sagte, dass nichts gewonnen wäre, wenn er vorzeitig Jonathans Argwohn weckte. Doch kaum hatte er Jenna im Land Cruiser erwähnt, musste er erkennen, dass seine ganze Achtsamkeit umsonst gewesen war. Jonathan warf ihm einen wissenden Blick zu und sagte: «Sie hat einen sehr ernstzunehmenden Freund.»
«Kann ich mir denken.»
«Oder, nein, entschuldige, das war falsch formuliert. Ich hätte sagen sollen, dass sie einen Freund sehr ernst nimmt, der in Wahrheit lächerlich und ein Blödmann erster Güte ist. Ich beleidige meine Intelligenz nicht mit der Frage, warum du dich nach ihr erkundigst.»
«Ich wollte nur höflich sein», sagte Joey.
«Haha. Es war interessant, als sie schließlich aufs College ging, da habe ich nämlich gemerkt, wer meine wahren Freunde waren und welche nur zu mir nach Hause kommen wollten, um dort sie zu sehen. Wie sich zeigte, waren es rund fünfzig Prozent.»
«Ich hatte das gleiche Problem, allerdings nicht mit meiner Schwester», sagte Joey und lächelte beim Gedanken an Jessica. «Bei mir waren es ein Kicker- und ein Hockey-Tisch und ein Bierfass.» Sodann enthüllte er Jonathan, beflügelt von der Freiheit des Unterwegsseins, die Umstände seiner letzten zwei Highschool-Jahre. Jonathan hörte einigermaßen aufmerksam zu, schien aber nur an einem Teil der Geschichte interessiert, dem über das Zusammenleben mit seiner Freundin.
«Und wo ist sie jetzt?», fragte er.
«In St. Paul. Sie wohnt immer noch zu Hause.»
«Ohne Scheiß?», sagte Jonathan sehr beeindruckt. «Aber Moment mal. Dieses Mädchen, das Casey an Yom Kippur in unser Zimmer gehen sah — das war doch nicht sie, oder?»
«Doch, ja», sagte Joey. «Wir hatten uns getrennt, sind dann aber rückfällig geworden.»
«Du verdammter kleiner Lügner! Du hast gesagt, das war bloß eine Bettnummer.»
«Nein. Ich hab nur gesagt, dass ich nicht drüber sprechen will.»
«Du hast mich in dem Glauben gelassen, dass sie eine Bettnummer ist. Ich fasse es nicht, dass du sie extra hast herkommen lassen, als ich weg war.»
«Wie gesagt, wir hatten einen Rückfall. Jetzt sind wir aber getrennt.»
«So richtig? Du telefonierst nicht mit ihr?»
«Nur ein klein bisschen. Sie ist ganz schön deprimiert.»
«Mann, ich bin beeindruckt, was für ein raffinierter, verlogener Hund da jetzt ans Licht kommt.»
«Ich bin nicht verlogen», sagte Joey.
«Sagte der Lügner. Hast du ein Bild von ihr im Computer?»
«Nein», log Joey.
«Joey, der heimliche Hengst», sagte Jonathan. «Joey, der große Stecher. Verdammt. Jetzt wird mir einiges klar.»
«Na schön, aber ich bin immer noch Jude, also musst du mich weiter mögen.»
«Ich habe nicht gesagt, dass ich dich nicht mag. Ich habe gesagt, mir wird einiges klar. Es ist mir völlig schnurz, ob du eine Freundin hast — ich sage Jenna nichts. Ich warne dich bloß jetzt schon, dass du den Schlüssel zu ihrem Herzen nicht hast.»
«Und was für ein Schlüssel ist das?»
«Ein Job bei Goldman Sachs. Den hat nämlich ihr Freund. Sein erklärtes Ziel ist es, im Alter von dreißig hundert Millionen schwer zu sein.»
«Wird der auch zu deinen Eltern kommen?»
«Nein, er ist in Singapur. Erst letztes Jahr hat er Examen gemacht, und schon schicken sie ihn wegen irgendeines Rund-um-die-Uhr-Milliarden-Dollar-Dings ins bescheuerte Singapur. Sie wird allein zu Hause sein und schmachten.»
Jonathans Vater war Begründer und Aushängeschild eines Thinktanks, der sich für die unilaterale Durchsetzung der militärischen Vorherrschaft Amerikas einsetzte, damit die Welt freier und sicherer würde, besonders im Hinblick auf Amerika und Israel. Im Oktober und November war kaum eine Woche vergangen, ohne dass Jonathan Joey auf einen Kommentar in der Times oder im Journal verwiesen hätte, in dem sein Vater die Bedrohung durch den radikalen Islam darlegte. Auch in Newshour und Fox News hatten sie ihn gesehen. Sein Mund war voller außerordentlich weißer Zähne, die er jedes Mal, wenn er zu sprechen begann, blitzen ließ, und er wirkte fast alt genug, um Jonathans Großvater zu sein. Außer Jonathan und Jenna hatte er drei viel ältere Kinder aus früheren Ehen und zwei Exfrauen.
Das Haus seiner dritten Ehe befand sich in McLean, Virginia, in einer baumbestandenen Sackgasse, die wie eine Vision dessen war, wo Joey leben wollte, sobald er das Geld dazu hätte. Im Innern des Hauses mit Fußböden aus feingemasertem Eichenholz schien es endlos Zimmer zu geben, die auf eine waldige Schlucht hinausgingen, in der Spechte zwischen zumeist kahlen Bäumen umherschwirrten. Obwohl in einem Haus aufgewachsen, das er immer für bücherlastig und geschmackvoll gehalten hatte, war Joey baff ob der Menge gebundener Bücher und der offensichtlichen Topqualität der multikulturellen Beutestücke, die Jonathans Vater während seiner glanzvollen Auslandsaufenthalte hatte zusammentragen können. So wie Jonathan voller Überraschung von Joeys Highschool-Abenteuern gehört hatte, war nun auch Joey überrascht, welchem Oberschichtluxus sein schlampiger und etwas ungehobelter Zimmergenosse entstammte. Das einzige wirklich Störende waren die protzig prunkvollen Judaika, die in diversen Nischen und Ecken geparkt waren. Als Jonathan Joey über eine besonders monströse versilberte Menora das Gesicht verziehen sah, versicherte er ihm, sie sei extrem alt und selten und wertvoll.
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