Bevor das Abendessen aufgetragen wurde, verzog er sich noch auf sein Zimmer, um in St. Paul anzurufen. Connie anzurufen kam in seinem momentanen Zustand nicht in Frage; jetzt beschlich ihn Scham über ihre schmutzigen Gespräche, die sich den ganzen Herbst über seltsamerweise nicht eingestellt hatte. Seine Eltern waren jedoch etwas anderes, wenn auch nur wegen der inzwischen eingelösten Schecks seiner Mutter.
In St. Paul meldete sich sein Dad und redete mit ihm nicht länger als zwei Minuten, um ihn dann an seine Mutter weiterzureichen, was Joey wie eine Art Verrat vorkam. Im Grunde hatte er vor seinem Dad ganz schön viel Respekt — wegen der Beständigkeit seiner Missbilligung, wegen der Strenge seiner Prinzipien — , und er hätte eventuell noch mehr Respekt gehabt, wenn sein Dad seiner Mutter gegenüber nicht so ehrerbietig gewesen wäre. Joey hätte etwas männliche Stütze gebrauchen können, doch stattdessen reichte sein Dad ihn immerzu an seine Mom weiter und hielt sich heraus.
«Hallo, du», sagte sie mit einer Wärme, bei der sich alles in ihm zusammenzog. Er fasste sogleich den Beschluss, hart zu ihr zu sein, doch wie so oft zermürbte sie ihn mit ihrem Humor und ihrem kaskadenartigen Lachen. Ehe er sich's versah, hatte er ihr die gesamte Szenerie in McLean beschrieben, ausgenommen Jenna.
«Ein Haus voller Juden!», sagte sie. «Wie interessant für dich.»
«Du bist doch selbst Jüdin», sagte er. «Und das macht auch mich zum Juden. Und auch Jessica und Jessicas Kinder, sollte sie welche kriegen.»
«Nein, das gilt nur, wenn du das Dogma mit Löffeln gefressen hast», sagte seine Mutter. Nach einem Vierteljahr an der Ostküste konnte Joey bei ihr einen kleinen Minnesota-Akzent heraushören.
«Weißt du», sagte sie, «ich glaube, wenn es um Religion geht, bist du nur das, was du selber von dir sagst. Niemand anderes kann es für dich sagen.»
«Aber du bist doch gar nicht religiös.»
«Genau darauf will ich hinaus. Das war eines der wenigen Dinge, über die meine Eltern, Gott schütze sie, und ich uns einig waren. Dass Religion albern ist. Auch wenn meine Schwester jetzt anscheinend anderer Ansicht ist als ich, was bedeutet, dass unser Ruf, bei absolut allem verschiedener Meinung zu sein, noch immer unbefleckt ist.»
«Welche Schwester?»
«Deine Tante Abigail. Sie steckt anscheinend tief in der Kabbala und entdeckt ihre jüdischen Wurzeln neu, so wie sie eben sind. Woher ich das weiß, fragst du? Weil wir von ihr einen Kettenbrief, vielmehr eine Ketten-Mail, über die Kabbala bekommen haben. Ich hielt das für ziemlich schlechten Stil, also habe ich ihr zurückgemailt und sie gebeten, mir bitte keine Kettenbriefe mehr zu schicken, und darauf hat sie mir in ihrer Antwort von ihrer erzählt.»
«Ich weiß nicht mal, was die Kabbala ist», sagte Joey.
«Ach, das würde sie dir sicher gern erzählen, solltest du je Kontakt mit ihr aufnehmen wollen. Die Kabbala ist sehr bedeutsam und mystisch — ich glaube, Madonna steht darauf, was dir so ziemlich alles sagt, was du dazu wissen musst.»
«Madonna ist Jüdin?»
«Jaa, Joey, deshalb der Name.» Seine Mutter lachte ihn aus.
«Na, egal», sagte er, «ich versuche, offen dafür zu sein. Ich möchte nicht gern etwas ablehnen, wozu ich mir noch gar keine Meinung bilden konnte.»
«Stimmt. Und wer weiß? Es könnte dir ja noch nützlich werden.»
«Könnte», sagte er kühl.
An dem sehr langen Esstisch wurde er auf dieselbe Seite wie Jenna platziert, was ihm ihren Anblick ersparte und ihm gestattete, sich auf die Konversation mit einem der glatzköpfigen Onkel zu konzentrieren, der ihn für einen Juden hielt und mit einer Schilderung seiner jüngsten Urlaubs-Schrägstrich-Geschäftsreise nach Israel ergötzte. Joey gab sich bewandert und beeindruckt von vielem, das ihm gänzlich fremd war: der Klagemauer mit ihren Tunneln, der Davidszitadelle, Masada, Yad Vashem. Verzögerter Unmut über seine Mutter, dazu das fabelhafte Haus und seine Faszination von Jenna sowie ein gewisses unbekanntes Gefühl echter intellektueller Neugier, das alles weckte in ihm die Sehnsucht, jüdischer zu sein — herauszufinden, wie diese Art der Zugehörigkeit wohl sein mochte.
Am anderen Ende des Tisches verbreitete sich Jonathans und Jennas Vater in derart beherrschender Ausführlichkeit über Außenpolitik, dass die anderen Gespräche nach und nach versiegten. Die truthahnartigen Stränge in seinem Hals waren in natura deutlicher zu sehen als im Fernsehen, und es zeigte sich, dass sein weißes, weißes Lächeln nur wegen der beinahe schrumpfkopfähnlichen Kleinheit seines Schädels so hervorstach. Dass ein derart verhutzelter Mensch die umwerfende Jenna hatte zeugen können, war für Joey nur noch mehr Beleg seiner überragenden Bedeutung. Er sprach von der «neuen Ritualmordlegende», die in der arabischen Welt zirkuliere — der Lüge, in den Zwillingstürmen hätten sich am 11.September keine Juden aufgehalten — , und von der Notwendigkeit, in Zeiten eines nationalen Notstands üble Lügen mit milden Halbwahrheiten zu kontern. Er sprach von Platon, als hätte er zu dessen athenischen Füßen höchstpersönlich die Erleuchtung erlangt. Er erwähnte die Mitglieder des Präsidentenkabinetts, indem er ihre Vornamen nannte, und erläuterte, wie «wir» den Präsidenten «bearbeitet» hätten, diesen einzigartigen historischen Augenblick dazu zu nutzen, eine äußerst hartnäckige geopolitische Pattsituation zu lösen und die Sphäre der Freiheit radikal zu erweitern. Zu normalen Zeiten, sagte er, sei die öffentliche Meinung in Amerika weitgehend isolationistisch und unwissend, die Terrorangriffe hätten «uns» jedoch die einmalige Gelegenheit eröffnet, die erste seit dem Ende des Kalten Krieges, um genau zu sein, dass «der Philosoph»
(welcher genau, wusste Joey nicht so recht zu sagen, oder er hatte einen früheren Bezug verpasst) auf den Plan trete und das Land im Zuge der Mission, die seine Philosophie als wahr und nötig offenbart habe, eine. «Wir müssen uns damit anfreunden, es mit einigen Fakten nicht allzu genau zu nehmen», sagte er lächelnd zu einem Onkel, der ihn im Hinblick auf die nuklearen Möglichkeiten des Irak sanft angegangen hatte. «Unsere modernen Medien sind sehr verschwommene Schatten an der Wand, und der Philosoph muss bereit sein, diese Schatten im Dienste einer höheren Wahrheit zu manipulieren.»
Zwischen Joeys Impuls, Jenna zu beeindrucken, und den Wörtern, die infolgedessen aus ihm herausbrachen, lag nur eine kurze Schrecksekunde des freien Falls. «Aber woher wissen Sie, dass das die Wahrheit ist?», rief er.
Alle Gesichter drehten sich zu ihm hin, und sein Herz fing an zu hämmern.
«Das wissen wir nie mit Gewissheit», sagte Jennas Vater und zog seine Lächelnummer ab. «Da haben Sie völlig recht. Aber wenn wir erkennen, dass unsere Weltsicht, basierend auf Jahrzehnten sorgfältiger empirischer Studien der allerbesten Köpfe, in auffallender Übereinstimmung mit dem induktiven Prinzip der allgemeinen Freiheit des Menschen steht, dann ist das ein gutes Anzeichen dafür, dass wir gedanklich wenigstens annähernd richtig liegen.»
Joey nickte eifrig, um seine absolute und tiefgehende Zustimmung zu bekunden, und war überrascht, dass er, ganz gegen seinen Willen, weiterbohrte: «Aber wenn wir anfangen, Lügen über den Irak zu verbreiten, sind wir doch nicht besser als die Araber mit ihrer Lüge, dass am n. September keine Juden getötet worden sind.»
Jennas Vater, nicht im mindesten aus der Fassung gebracht, sagte: «Sie sind ein sehr aufgeweckter junger Mann, wie?»
Joey wusste nicht, ob das ironisch gemeint war.
«Jonathan zufolge sind Sie ein sehr guter Student», fuhr der alte Mann freundlich fort. «Ich nehme daher an, Sie haben schon einmal die Erfahrung gemacht, anderer, nicht so aufgeweckter Leute wegen frustriert zu sein. Weil die nicht nur unfähig sind, sondern sich auch dagegen sperren, gewisse Wahrheiten anzuerkennen, deren Logik sich Ihrer Meinung nach von selbst versteht. Ja weil es sie anscheinend gar nicht kümmert, dass ihre Logik schlecht ist. Kennen Sie solche Frustrationen nicht?»
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