«Okay», sagte sie und ging gehorsam zum Bus. Joey folgte ihr mit ihrer Reisetasche. Immerhin brauchte er nicht zu fürchten, dass sie ihm eine Szene machte. Nie stellte sie ihn bloß, nie beharrte sie auf der Straße auf Händchenhalten, nie klammerte, schmollte, tadelte sie. Sie sparte sich ihre gesamte Inbrunst bis zu dem Moment auf, wo sie allein waren, darin war sie Spezialist. Als die Bustüren aufgingen, durchbohrte sie ihn mit einem lodernden Blick, reichte dann dem Fahrer ihre Tasche und stieg ein. Es gab kein Getue wie Durchs-Fenster-Winken oder Kussgesichter-Machen. Sie steckte sich die Kopfhörer in die Ohren und fläzte sich so tief in ihren Sitz, dass er sie nicht mehr sah.
Auch in den Wochen danach gab es kein Getue. Gehorsam unterließ es Connie, ihn anzurufen, und während das nationale Fieber zurückging und der Herbst sich auf den Blue Ridge Mountains mit heufarbenen Sonnenstrahlen und schweren Düften warmer Rasenflächen und sich verfärbenden Laubs intensivierte, wurde Joey Zeuge vernichtender Footballniederlagen der Cavaliers, trainierte im Fitnesscenter und setzte etliche Bierpfunde an. Er suchte Kontakt zu Wohnheimgenossen aus wohlhabenden Familien, die glaubten, die islamische Welt müsse so lange mit Flächenbombardements überzogen werden, bis sie gelernt habe, wie man sich benimmt. Er selbst war nicht rechts, fühlte sich bei denen, die es waren, aber wohl. Afghanistan den Arsch aufzureißen entsprach zwar nicht genau dem, was seine Erschütterung verlangte, aber es kam dem so weit nahe, dass es ihm eine gewisse Befriedigung gewährte.
Erst wenn so viel Bier getrunken war, dass in größeren Runden das Gespräch auf Sex kam, fühlte er sich isoliert. Seine Geschichte mit Connie war zu intensiv und merkwürdig — zu innig, zu sehr mit Liebe verknäuelt — , als dass sie sich zum Prahlen eignete. Er verachtete und beneidete seine Wohnheimgenossen gleichermaßen wegen ihrer gemeinschaftlichen Angeberei, ihrer zotigen Bekundungen, was sie mit den schärfsten Puppen aus dem Jahrbuch machen würden oder vereinzelt, stockbesoffen und scheinbar ohne Reue oder Folgen, mit diversen stockbesoffenen Frauen an ihren Edelinternaten und Vorbereitungsschulen angeblich schon gemacht hatten. Die Sehnsüchte seiner Wohnheimgenossen kreisten noch weitgehend um den Blowjob, der offenbar allein für Joey wenig mehr als eine verklärte Wichserei, ein Zeitvertreib auf dem Parkplatz in der Mittagspause war.
Die Masturbation selbst war eine erniedrigende Zerstreuung, deren Nützlichkeit er bei seinen Bemühungen, sich von Connie abzunabeln, gleichwohl schätzen lernte. Sein bevorzugter Entladungsort war die Behindertentoilette in der naturwissenschaftlichen Bibliothek, an deren Vormerkschalter er 7,65 Dollar die Stunde dafür kassierte, dass er Lehrbücher und das Wall Street Journal las und Naturwissenschaftsstrebern gelegentlich einmal Texte holte. Dass er einen Studentenjob am Vormerkschalter ergattert hatte, war ihm als weitere Bestätigung dafür erschienen, dass ihm ein glückliches Leben vorherbestimmt war. Zu seinem Erstaunen besaß die Bibliothek noch Druckwerke von so großer Seltenheit und so verbreitetem Interesse, dass sie in einem abgetrennten Magazin aufbewahrt werden mussten und das Gebäude nicht verlassen durften. Das alles konnte unmöglich innerhalb der nächsten Jahre digitalisiert werden. Viele der vorgemerkten Texte waren in ehemals gängigen Fremdsprachen geschrieben und mit aufwendigen Farbtafeln illustriert; die Deutschen des neunzehnten Jahrhunderts hatten das Wissen besonders fleißig katalogisiert. Es konnte der Masturbation sogar Würde verleihen, ein bisschen jedenfalls, wenn man einen jahrhundertealten deutschen Atlas der Sexualanatomie dafür zu Hilfe nahm. Er wusste, früher oder später würde er sein Schweigen gegenüber Connie brechen müssen, doch Abend für Abend, wenn er seine Gameten und prostatischen Flüssigkeiten unter Einsatz der paddelförmigen Behindertenhähne in den Abguss gespült hatte, beschloss er aufs Neue, noch einen weiteren Tag zu riskieren, bis er schließlich einmal spät abends, am Vormerkschalter, genau an dem Tag, als er fand, dass er wahrscheinlich einen Tag zu lange gewartet hatte, einen Anruf von Connies Mutter erhielt.
«Carol», sagte er liebenswürdig. «Hallo.»
«Hallo, Joey. Du weißt wahrscheinlich, warum ich anrufe.»
«Nein, eigentlich nicht.»
«Tja, du hast unserer kleinen Freundin so ziemlich das Herz gebrochen, deshalb rufe ich an.»
Mit schlingerndem Magen zog er sich in die Ungestörtheit des Magazins zurück. «Ich wollte sie heute Abend anrufen», sagte er zu Carol.
«Heute Abend. Ach, wirklich. Du wolltest sie heute Abend anrufen.»
«Ja.»
«Warum glaube ich dir das nicht?»
«Keine Ahnung.»
«Nun, sie ist schon ins Bett gegangen, es ist also gut, dass du nicht angerufen hast. Sie ist ohne einen Bissen ins Bett gegangen. Um sieben.»
«Also wirklich gut, dass ich nicht angerufen habe.»
«Das ist nicht lustig, Joey. Sie ist sehr deprimiert. Du hast ihr eine Depression verpasst, und du darfst sie nicht länger hinhalten. Verstehst du? Meine Tochter ist kein Hund, den du an eine Parkuhr leinen und dann vergessen kannst.»
«Vielleicht gibst du ihr ein Antidepressivum.»
«Sie ist nicht dein Haustier, das du bei geschlossenen Fenstern auf dem Rücksitz lassen kannst», sagte Carol; sie fand Gefallen an ihrer Metapher. «Wir sind ein Teil deines Lebens, Joey. Ich finde, wir verdienen ein bisschen mehr als das Nichts, das du uns hier zuteil werden lässt. Das ist für alle Beteiligten ein ganz scheußlicher Herbst, und du bist abwesend.»
«Ich habe eben meine Seminare und so weiter.»
«Zu beschäftigt für ein fünfminütiges Telefonat. Nach dreieinhalb Wochen Schweigen.»
«Ich wollte sie wirklich heute Abend anrufen.»
«Lassen wir mal das mit Connie», sagte Carol. «Lassen wir Connie mal einen Moment lang aus dem Spiel. Du und ich, wir haben fast zwei Jahre lang wie eine Familie zusammengelebt. Ich hätte nie geglaubt, dass ich das einmal sage, aber so allmählich bekomme ich eine Vorstellung davon, was deine Mom deinetwegen durchgemacht hat. Im Ernst. Bis zu diesem Herbst habe ich nicht begriffen, wie kalt du bist.»
Joey richtete ein Lächeln reiner Bedrängnis an die Decke. An seinem Umgang mit Carol hatte es immer etwas gegeben, was nicht ganz richtig war. Sie war das, was die Privatschul-Jungs in seinem Wohnheim und die Verbindungsbrüder, die ihn unter Druck setzten, gern eine MILF nannten (ein Akronym, das nach Joeys Ansicht wegen der Auslassung des T für «to» leicht schwachsinnig klang). Obwohl er im Allgemeinen über einen sehr gesunden Schlaf verfügte, hatte es während seiner Zeit bei den Monaghans gelegentlich Nächte gegeben, da er in Connies Bett mit merkwürdigen angstvollen Vorahnungen seiner selbst aufgewacht war, in deren Verlauf er zum Beispiel unwissentlich und voller Entsetzen ins Bett seiner Schwester stieg oder Blake versehentlich mit dessen Druckluftnagler einen Nagel in die Stirn jagte oder, das war das Seltsamste, als aufragender Kran auf einer bedeutenden Werft an den Großen Seen mit seinem horizontalen Glied schwere Container vom Deck eines Mutterschiffs schwenkte und sanft auf einem kleineren, flacheren Schubleichter absetzte. Diese Traumbilder folgten häufig Momenten eines unstatthaften Verbundenseins mit Carol — ein kurzer Blick auf ihren nackten Hintern durch die fast geschlossene Tür zu ihrem und Blakes Schlafzimmer, das verständnissinnige Zwinkern, das sie Joey bei einem Rülpser Blakes am Esstisch zuwarf, die ausführliche und explizite Begründung, die sie ihm (untermalt von anschaulichen Geschichten aus ihrer eigenen unbekümmerten Jugend) dafür gab, dass sie Connie die Pille nehmen ließ. Da Connie grundsätzlich außerstande war, über Joey verstimmt zu sein, oblag es ihrer Mutter, ihre Verärgerungen zu registrieren. Carol war Connies redseliges Organ, ihre unverblümte Anwältin, und manchmal, an Wochenendabenden, an denen Blake mit seinen Kumpeln unterwegs war, hatte Joey das Gefühl gehabt, den Mittelpart bei einem virtuellen Dreier abzugeben, wenn nämlich Carols Mund all das herausschnatterte, was Connie nicht sagen wollte, und Connie mit Joey dann schweigend all das machte, was Carol nicht machen konnte, und Joey in den frühen Morgenstunden hochschreckte in dem Bewusstsein, in etwas gefangen zu sein, was nicht ganz richtig war. Mom I'd Like Fuck. «Und was soll ich jetzt tun?», sagte er.
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