Sosehr er es in den Wochen und Monaten, die darauf folgten, auch versuchte, er konnte sich nicht mehr daran erinnern, was er gedacht hatte, als er den halbverlassenen Campus überquerte. Diese Ahnungslosigkeit war äußerst untypisch für ihn, und der tiefe Verdruss, den er auf den Stufen des Chemie-Gebäudes dann empfand, wurde zur Saat seines zutiefst persönlichen Grolls gegen die Terrorangriffe. Später, als sich seine Schwierigkeiten türmten, war ihm, als wäre ausgerechnet sein Glück, das als sein Geburtsrecht zu betrachten die Kindheit ihn gelehrt hatte, von einem höherwertigen Pech ausgestochen worden, das so abwegig war, dass es nicht einmal real erschien. Er wartete und wartete darauf, dass dieses Abwegige, dieser Betrug, entlarvt und vor der Welt richtiggestellt würde, damit er das College-Erlebnis haben konnte, mit dem er gerechnet hatte. Als es anders kam, wurde er von einer Wut gepackt, deren spezifischer Gegenstand sich nicht klar konturieren wollte. Der Übeltäter war rückblickend beinahe wie Bin Laden, aber nicht ganz. Der Übeltäter war etwas Unergründlicheres, etwas Nichtpolitisches, etwas strukturell Bösartiges, wie der Hubbel auf einem Gehweg, dessentwegen man strauchelt und aufs Gesicht schlägt, wenn man in aller Unschuld herumspaziert.
In den Tagen nach dem n. September erschien Joey plötzlich alles extrem dumm. Dumm war, dass ohne jeden ersichtlichen praktischen Grund «Nachtgebete der Betroffenheit» abgehalten wurden, dumm war, dass sich die Leute dieselben Katastrophenberichte immer wieder aufs Neue ansahen, dumm war, dass die Jungs von der Chi-Phi-Verbindung an ihrem Haus ein «Unterstützungs»-Transparent aufhängten, dumm war, dass das Footballspiel gegen die Penn State abgesagt wurde, dumm war, dass so viele Leute das Gelände verließen, um bei ihren Familien zu sein (und dumm war auch, dass in Virginia alle «Gelände» statt «Campus» sagten). Die vier liberalen Studenten auf seinem Wohnheimflur führten endlose dumme Dispute mit den zwanzig konservativen, als interessierte es jemanden, was ein Haufen Achtzehnjähriger über den Nahen Osten dachte. Ein dummes großes Trara wurde um die Studenten gemacht, die bei den Angriffen Verwandte oder Freunde der Familie verloren hatten, als wären die anderen schrecklichen Todesfälle, die ständig auf der Welt geschahen, etwa weniger wichtig, und es gab dummen Applaus, als ein Kleinbus voller Oberschichtler feierlich nach New York abfuhr, um den Ground-Zero-Arbeitern Beistand zu leisten, als gäbe es in New York nicht genügend Leute dafür. Joey wollte einfach nur, dass das normale Leben so schnell wie möglich wieder einkehrte. Ihm war, als wäre er mit seinem alten Discman gegen eine Wand gestoßen und hätte dabei den Laser von einem Stück, das er gerade noch mit Vergnügen gehört hatte, auf ein anderes springen lassen, das er weder erkannte noch mochte und auch nicht stoppen konnte. Schon bald war er so einsam und isoliert und begierig nach vertrauten Dingen, dass er den ziemlich schwerwiegenden Fehler beging, Connie Monaghan grünes Licht zu geben, sich in einen Greyhound-Bus zu setzen und ihn in Charlottesville zu besuchen, womit er die Vorarbeiten eines Sommers, deren Ziel es gewesen war, sie auf ihre unausweichliche Trennung vorzubereiten, zunichtemachte.
Den ganzen Sommer hatte er sich abgemüht, Connie zu vermitteln, wie wichtig es sei, sich wenigstens neun Monate nicht zu sehen, damit sie ihre Gefühle füreinander auf die Probe stellen konnten. Der Gedanke dahinter war, dass beide voneinander unabhängig werden und herausfinden sollten, ob sie auch als Unabhängige gut zueinander passten, doch für Joey war das ebenso wenig eine «Probe», wie ein Chemie-«Experiment» an der Highschool Forschung war. Connie sollte mal schön in Minnesota bleiben, während er eine Karriere als Geschäftsmann verfolgte und jungen Frauen begegnete, die exotischer und avancierter waren und bessere Verbindungen hatten als sie. So jedenfalls hatte er sich das vor dem n. September vorgestellt.
Bewusst legte er Connies Besuch auf ein Wochenende, an dem Jonathan wegen eines jüdischen Feiertags bei sich zu Hause in NoVa war. Die ganze Zeit kampierte sie auf Joeys Bett, neben sich auf dem Fußboden ihre Reisetasche, in der sie ihre Sachen verstaute, sobald sie sie nicht mehr brauchte, als wollte sie ihre Präsenz minimieren. Während Joey versuchte, für ein Seminar am Montagvormittag Piaton zu lesen, blätterte sie die Fotografien der Kommilitonen in Joeys Erstsemester-Jahrbuch durch und lachte über diejenigen mit komischem Gesichtsausdruck oder unglücklichem Namen. Bailey Bodsworth, Crampton Ott, Taylor Tuttle. Nach Joeys verlässlicher Zählung schliefen sie in vierzig Stunden achtmal miteinander und dröhnten sich wiederholt mit dem hydroponisch gezogenen Gras, das sie mitgebracht hatte, zu. Als es Zeit wurde, sie zum Busbahnhof zu bringen, spielte er ihr für die strapaziöse zwanzigstündige Rückfahrt nach Minnesota eine Ladung neuer Lieder auf ihren MP3-Player. Die traurige Wahrheit war, dass er sich für sie verantwortlich fühlte und wusste, dass er in jedem Fall mit ihr Schluss machen musste, bloß keine Ahnung hatte, wie.
Am Busbahnhof schnitt er das Thema ihrer Ausbildung an, die zu verfolgen sie versprochen, in ihrer verstockten Art, ohne jede Erklärung, aber irgendwie nicht begonnen hatte.
«Du musst dich für Januar einschreiben», sagte er zu ihr. «Fang auf dem Inver Hills College an und Wechsel dann vielleicht nächstes Jahr an die Uni.»
«Okay», sagte sie.
«Du hast doch echt was drauf», sagte er. «Du kannst einfach nicht immer nur kellnern.»
«Okay.» Bedrückt schaute sie auf die Schlange, die sich vor ihrem Bus bildete. «Ich mach's für dich.»
«Nicht für mich. Für dich. Wie du's versprochen hast.»
Sie schüttelte den Kopf. «Du willst doch bloß, dass ich dich vergesse.»
«Das stimmt nicht, überhaupt nicht», sagte Joey, obwohl es einigermaßen stimmte.
«Ich werde studieren», sagte sie. «Aber darüber vergesse ich dich nicht. Nichts kann mich dazu bringen, dich zu vergessen.»
«Schön», sagte er, «aber trotzdem müssen wir weiter herausfinden, wer wir sind. Wir müssen uns beide noch entwickeln.»
«Ich weiß jetzt schon, wer ich bin.»
«Aber vielleicht täuschst du dich ja. Vielleicht musst du immer weiter — »
«Nein», sagte sie. «Ich täusche mich nicht. Ich möchte mit dir zusammen sein. Mehr will ich nicht in meinem Leben. Du bist der beste Mensch auf Erden. Du kannst alles schaffen, was du willst, und ich kann für dich da sein. Du wirst viele Firmen besitzen, und ich kann für dich arbeiten. Oder du kannst für die Präsidentschaft kandidieren, und ich arbeite in deinem Wahlkampfteam. Ich mache die Sachen, die sonst keiner machen will. Wenn du jemanden brauchst, der das Gesetz bricht, mach ich's für dich. Willst du Kinder, ziehe ich sie für dich groß.»
Joey war sich bewusst, dass er einen klaren Kopf brauchte, um auf diese ziemlich alarmierende Erklärung zu antworten, doch leider war er noch ein wenig zugedröhnt.
«Ich will, dass du Folgendes tust», sagte er. «Du sollst aufs College gehen. Für den Fall nämlich, na ja», und das hinzuzufügen war unklug, «dass du für mich arbeiten solltest, müsstest du eine Menge verschiedenartige Dinge wissen.»
«Deshalb habe ich doch gesagt, dass ich für dich studieren werde», sagte Connie. «Hast du mir nicht zugehört?»
Nach und nach erkannte er, was er in St. Paul noch nicht erkannt hatte, nämlich dass der Preis von etwas nicht immer auf den ersten Blick ersichtlich war: dass die eigentliche Explosion der Zinsschuld seiner Highschool-Freuden noch vor ihm liegen könnte.
«Wir stellen uns mal lieber in die Schlange», sagte er. «Wenn du einen guten Platz willst.»
«Okay.»
«Außerdem finde ich», sagte er, «dass wir uns wenigstens eine Woche lang nicht anrufen sollten. Wir müssen wieder disziplinierter werden.»
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