«Nicht sehr viel», sagte Joey.
«Na ja, vielleicht erzähle ich dir mal mehr, wenn du mich nett darum bittest. Aber was ich sagen will: Dich betreffend habe ich intensiv über diese Frage der Liebe nachgedacht. Und ich bin zu dem Schluss gekommen — »
«Mom, macht es dir was aus, wenn wir über etwas anderes reden?»
«Ich bin zu dem Schluss gekommen — »
«Oder, also, vielleicht ein andermal? Nächste Woche oder so? Ich muss hier noch einiges erledigen, bevor ich ins Bett gehe.» In St. Paul wurde verletzt geschwiegen.
«Entschuldige», sagte er. «Es ist ziemlich spät, und ich bin müde und muss noch einiges erledigen.»
«Ich wollte dir einfach nur erklären», sagte seine Mutter mit viel leiserer Stimme, «warum ich dir den Scheck schicke.»
«Schön, danke. Das ist nett von dir. Denk ich mal.»
Mit noch kleinerer und verletzterer Stimme dankte ihm seine Mutter für den Anruf und legte auf.
Joey sah sich auf dem Rasen nach Büschen oder einer architektonischen Nische um, wo er unbemerkt von vorbeiziehenden Scharen heulen konnte. Da er keine sah, rannte er in sein Wohnheim und bog blind, als müsste er kotzen, ins erste Klo, an dem er in einem Flur, der nicht der seine war, vorüberkam, schloss sich in eine Kabine ein und schluchzte voller Hass auf seine Mutter. Jemand duschte in einer Wolke aus Deoseife und Moder. Eine große Erektion mit Grinsgesicht, die sich, Tröpfchen spritzend, gleich Superman emporschwang, war mit Filzstift auf die rostnarbige Kabinentür gemalt. Darunter hatte jemand geschrieben KOMM JETZT ZUM SCHUSS ODER GEH KACKEN.
Der Vorwurf seiner Mutter war nicht so einfach gestrickt wie der von Carol Monaghan. Anders als ihre Tochter war Carol nicht allzu helle. Connie besaß eine spröde, kompakte Intelligenz: eine feste kleine Klitoris von Scharfblick und Sensibilität, zu der sie Joey nur hinter verschlossenen Türen Zugang gewährte. Wenn sie mit Carol, Blake und Joey gemeinsam beim Abendessen saß, aß sie mit gesenktem Blick, scheinbar versunken in ihrer sonderbaren Gedankenwelt, später jedoch, allein mit Joey in ihrem Zimmer, konnte sie noch das letzte beklagenswerte Detail von Carols und Blakes Benehmen am Esstisch wiedergeben. Einmal fragte sie Joey, ob er bemerkt habe, dass fast jede Äußerung Blakes darauf hinauslaufe, wie blöd andere Leute seien und für wie überlegen und ausgenutzt er sich dagegen selber halte. Blake zufolge war die KSTP-Wetter vorhersage am Morgen blöd gewesen, hatten die Paulsens ihre Recyclingtonne an einer blöden Stelle aufgestellt, war der Sicherheitsgurtpiepser in seinem Pick-up blöd, weil er nicht nach sechzig Sekunden ausging, waren die Pendler blöd, die sich an das Tempolimit auf der Summit Avenue hielten, war die Ampelschaltung an der Summit, Ecke Lexington blöd, war sein Chef auf der Arbeit blöd, war die städtische Bauordnung blöd. Joey fing an zu lachen, als Connie, sich unerbittlich erinnernd, weitere Beispiele aufführte: Die neue Fernbedienung des Fernsehers war blöd gestaltet, am Primetime-Programm von NBC waren blöde Änderungen vorgenommen worden, die National League war blöd, weil sie nicht die DH-Regel übernahm, die Vikings waren blöd, weil sie Brad Johnson und Jeff George hatten gehen lassen, der Moderator des zweiten Duells der Präsidentschaftskandidaten war blöd, weil er AI Gore nicht darauf festnagelte, wie verlogen er sei, Minnesota war blöd, weil es seine hart arbeitenden Bürger für eine kostenlose medizinische Spitzenversorgung von illegal eingewanderten Mexikanern und Sozialschmarotzern zahlen ließ, eine kostenlose medizinische Spitzenversorgung -
«Und weißt du was?», sagte Connie schließlich.
«Was?», sagte Joey.
«Du machst das nie. Du bist eben schlauer als andere, deshalb musst du sie auch nie als blöd bezeichnen.»
Joey nahm dieses Kompliment mit Unbehagen an. Zum einen ließ ihn der direkte Vergleich mit Blake einen kräftigen Hauch Konkurrenzdruck verspüren — das verstörende Gefühl, ein Pfand oder ein Siegerpreis in einem komplizierten Mutter-Tochter-Kampf zu sein. Und auch wenn es stimmte, dass er, als er bei den Monaghans eingezogen war, eine Menge Vorurteile über Bord geworfen hatte, hatte er davor doch alles Mögliche als blöd bezeichnet, insbesondere seine Mutter, die ihm zunehmend als Quell endloser, nervenaufreibender Idiotie erschienen war. Und nun deutete Connie offenbar an, dass die Leute sich nur deswegen über Blödheit beklagten, weil eigene Blödheit sie dazu brachte.
In Wahrheit war das Einzige, bei dem seine Mutter sich der Blödheit schuldig gemacht hatte, Joey selbst gewesen. Sicher, es hatte auch sehr dumm gewirkt, dass sie beispielsweise so respektlos über Tupac geredet hatte, dessen beste Sachen Joey ohne Wenn und Aber auf Genieebene ansiedelte, oder bei Eine schrecklich nette Familie so aggressiv geworden war, obwohl deren Blödheit doch etwas so Kalkuliertes und Extremes hatte, dass sie absolut bestach. Aber nie wäre sie so über Eine schrecklich nette Familie hergefallen, wenn Joey sich nicht so hingebungsvoll die ganzen Wiederholungen angesehen hätte, nie hätte sie sich dazu hergegeben, ihre peinlich schiefen Zerrbilder von Tupac zu entwerfen, wäre Joey nicht so ein Bewunderer von ihm gewesen. Die eigentliche Wurzel ihrer Blödheit war ihr Wunsch, dass Joey ihr Kleiner-Junge-Kumpel blieb: dass er sich auch weiterhin mehr von seiner Mutter als vom tollen Fernsehen oder einem offenbar genialen Rapstar unterhalten und faszinieren ließ. Das war der kranke Kern ihrer Dummheit: sie konkurrierte.
Irgendwann war er so verzweifelt gewesen, dass er ihr regelrecht eingebläut hatte, er wolle nicht mehr ihr Kleiner-Junge-Kumpel sein. Das hatte er nicht einmal bewusst geplant, es war eher ein Nebenprodukt seines schon lange währenden Ärgers über seine moralinsaure Schwester, die zu erzürnen und zu entsetzen er keine schönere Methode wusste, als in der Zeit, wo seine Eltern bei der kränkelnden Großmutter in Grand Rapids waren, einen Haufen Freunde zu sich einzuladen und sich mit Jim Beam zu betrinken, und dann, in der Nacht, Connie an der Wand zu Jessicas Zimmer extralaut zu bumsen, womit er Jessica veranlasste, ihre unerträglichen Belle & Sebastian auf Club-Lautstärke aufzudrehen und später, nach Mitternacht, mit ihren tugendhaft weißen Knöcheln an seine abgeschlossene Zimmertür zu hämmern -
«Verdammt, Joey! Du hörst sofort auf damit! Sofort, hast du verstanden?»
«Hey, mal langsam, ich tue dir hier einen Gefallen.»
«Was?»
«Du hast es doch bestimmt satt, mich nicht zu verpetzen? Ich tue dir einen Gefallen! Hier, das ist deine Chance!»
«Jetzt verpetz ich dich wirklich. Ich rufe sofort Dad an.»
«Nur zu! Hast du mir nicht zugehört? Ich sagte ja gerade, ich tue dir einen Gefallen.»
«Du Wichser. Du selbstgefälliger kleiner Wichser. Ich rufe jetzt sofort Dad an — », während Connie, splitternackt, Mund und Brustwarzen blutrot, dasaß, den Atem anhielt und Joey mit einer Mischung aus Furcht, Verblüffung, Erregung, Ergebenheit und Freude ansah, was ihn wie nichts zuvor und wenig seither davon überzeugte, dass ihr keine Vorschrift, keine Anstandsregel, kein Moralgesetz ein Tausendstel so wichtig war wie ihr Wunsch, sein auserwähltes Mädchen, seine Komplizin zu sein.
Dass seine Großmutter in jener Woche starb, kam für ihn unerwartet, denn so alt war sie noch gar nicht. Indem er einen Tag vor ihrem Ableben die Kacke zum Dampfen gebracht hatte, hatte er sich extrem ins Unrecht gesetzt. Wie sehr, zeigte sich daran, dass er nicht einmal angeschrien wurde. In Hibbing, bei der Beerdigung, behandelten seine Eltern ihn einfach wie Luft. Er musste abseits in seiner Schuld schmoren, während die übrigen Angehörigen vereint standen in der Trauer, die er mit ihnen hätte teilen sollen. Dorothy war der einzige Großelternteil in seinem Leben gewesen, und sie hatte ihn, als er noch sehr jung war, damit beeindruckt, dass sie ihn ihre verkrüppelte Hand betasten und somit feststellen ließ, dass es immer noch die Hand eines Menschen war und nichts, wovor man sich zu fürchten brauchte. Danach hatte er nie mehr Einwände gegen die Freundlichkeiten erhoben, die er ihr auf Bitten seiner Eltern bezeigen sollte, wenn sie zu Besuch gewesen war. Sie war ein Mensch, vielleicht sogar der einzige, zu dem er hundertprozentig hatte gut sein können. Und nun war sie plötzlich tot.
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