Walter wühlte einige laminierte Schaubilder durch. «Ich habe die Sache zurückverfolgt», sagte er, «weil ich weiterhin nicht schlafen konnte. Erinnerst du dich an Aristoteles und seine Ursachenlehre? Die Wirk-, die Form- und die Finalursache? Also, Nestraub durch Krähen und Wildkatzen ist eine Wirkursache für den Rückgang des Waldsängers. Und Fragmentierung des Lebensraums ist eine Formursache davon. Was aber ist die Finalursache? Die Finalursache ist die Wurzel von so ziemlich jedem Problem, das wir haben. Die Finalursache ist: verdammt nochmal zu viele Menschen auf der Erde. Das wird besonders klar, wenn wir nach Südamerika fahren. Ja, der Pro-Kopf-Verbrauch steigt. Ja, die Chinesen räumen dort illegal Rohstoffe ab. Aber das wahre Problem ist der Bevölkerungsdruck. Sechs Kinder pro Familie gegenüber eins Komma fünf. Die Leute versuchen verzweifelt, die Kinder zu ernähren, die ihnen der Papst in seiner unendlichen Weisheit abverlangt, also ruinieren sie die Umwelt.»
«Komm doch mal mit uns nach Südamerika», sagte Lalitha. «Dann fahren wir über die kleinen Straßen, da gibt's schlimme Abgase von schlechten Motoren und minderwertigem Sprit, die Berghänge sind alle kahl geschlagen, und die Familien haben acht oder zehn Kinder, das macht einen krank. Komm einfach mal mit und finde heraus, ob dir gefallt, was du da siehst. Denn das hast du bald vor deiner Haustür.»
Du spinnst ja, dachte Katz. Du spinnst, du kleines scharfes Ding.
Walter reichte ihm ein laminiertes Balkendiagramm. «Allein in Amerika», sagte er, «wird die Bevölkerung in den nächsten vier Jahrzehnten um fünfzig Prozent anwachsen. Überleg dir mal, wie dicht besiedelt die Speckgürtel jetzt schon sind, denk an den Verkehr und die Zersiedelung und die Umweltzerstörung und die Abhängigkeit von ausländischem Öl. Und dann rechne noch fünfzig Prozent dazu. Und das ist nur Amerika, was theoretisch eine viel größere Bevölkerung ernähren kann. Und dann denk an die C0 2-Emissionen weltweit, an Völkermord und Hunger in Afrika und an die radikalisierte, chancenlose Unterschicht in der arabischen Welt, an die Überfischung der Weltmeere, an illegale Siedlungen in Israel und an die Han-Chinesen, die Tibet überrennen, an Hundertmillionen Arme im Atomstaat Pakistan: Es gibt kaum ein Problem auf der Welt, das nicht dadurch gelöst oder wenigstens gewaltig gelindert würde, wenn es weniger Menschen gäbe. Und dennoch — » er gab Katz ein weiteres Diagramm — «fügen wir bis 2050 weitere drei Milliarden hinzu. Mit anderen Worten, das Äquivalent der gesamten Weltbevölkerung von damals, als du und ich unsere Cents in UNICEF-Dosen gesteckt haben. Was wir in unserem kleinen Rahmen jetzt tun könnten, um ein wenig Natur zu retten und eine gewisse Lebensqualität zu bewahren, wird von den schieren Zahlen erdrückt werden, denn die Menschen können zwar ihre Verbrauchergewohnheiten ändern — das kostet Zeit und Mühe, aber es geht — , doch wenn die Bevölkerung weiterwächst, wird nichts von dem, was wir tun, etwas ausrichten können. Und trotzdem spricht niemand öffentlich über das Problem. Obwohl es auf der Hand liegt und uns umbringt.»
«Das klingt nun schon vertrauter», sagte Katz. «Ich erinnere mich an einige recht ausgedehnte Diskussionen.»
«Ja, das hat mich auch schon am College beschäftigt. Aber wie du weißt, habe ich selber gebrütet.»
Katz runzelte die Stirn. Brüten, keine uninteressante Ausdrucksweise, um von Frau und Kindern zu sprechen.
«Auf meine Art», sagte Walter, «war ich vermutlich Teil eines größeren kulturellen Wandels, der sich in den Achtzigern und Neunzigern vollzogen hat. Die Überbevölkerung war ganz klar ein Thema der öffentlichen Debatte in den Siebzigern, mit Paul Ehrlich und dem Club of Rome und der Organisation Zero Population Growth. Und plötzlich war das alles vom Tisch. Darüber wurde nicht mehr gesprochen. Zum Teil hatte das mit der Grünen Revolution zu tun — du weißt schon, immer noch massenhaft Hungersnöte, aber keine apokalyptischen. Und dann kriegte die Bevölkerungskontrolle politisch einen schlechten Ruf. Das totalitäre China mit seiner Ein-Kind-Politik, Indira Gandhi mit ihren Zwangssterilisationen, die amerikanische ZPG-Organisation, das alles wurde als nativistisch und rassistisch abgetan. Die Liberalen bekamen es mit der Angst zu tun und schwiegen. Sogar der Sierra Club bekam es mit der Angst zu tun. Und die Konservativen haben sich sowieso immer einen Dreck darum geschert, weil ihre ganze Ideologie nur kurzlebige Egozentrik ist und Gottes Plan und so weiter. Und so ist das Problem zu einem Krebs geworden, von dem man genau weiß, dass er in einem wächst, aber man beschließt, man denkt einfach nicht daran.»
«Und das hat was mit eurem Pappelwaldsänger zu tun?», sagte Katz.
«Alles hat mit ihm zu tun», sagte Lalitha.
«Wie gesagt», sagte Walter, «wir haben beschlossen, den Auftrag der Stiftung, die das Überleben des Waldsängers sichern soll, etwas freier zu interpretieren. Wir verfolgen das Problem einfach weiter zurück, immer weiter zurück. Und hinsichtlich einer Finalursache oder eines unbewegten Bewegers stoßen wir, im Jahr 2004, auf die Tatsache, dass es total toxisch und uncool geworden ist, über eine Umkehrung des Bevölkerungswachstums zu sprechen.»
«Also frage ich Walter», sagte Lalitha, «wer ist der coolste Mensch, den du kennst?»
Katz lachte und schüttelte den Kopf. «O nein. Nein, nein, nein.»
«Pass auf, Richard», sagte Walter. «Die Konservativen haben gesiegt. Sie haben die Demokraten in eine Mitte-Bechts-Partei verwandelt. Sie haben das ganze Land dazu gebracht, vor jedem einzelnen Baseballspiel der Major League zu singen, mit der Betonung auf Gott. Sie haben an jeder beschissenen Front gesiegt, vor allem aber haben sie kulturell gesiegt, und besonders im Hinblick auf Kinder. 1970 war es noch angesagt, sich um die Zukunft des Planeten zu sorgen und keine Kinder zu bekommen. Heute stimmt alles darin überein, rechts wie links, dass es schön ist, viele Kinder zu haben. Je mehr, desto besser. Kate Winslett ist schwanger, hurra hurra. Irgendwo in Iowa kriegt eine blöde Kuh Achtlinge, hurra hurra. Die Debatte über die Idiotie von Geländewagen verstummt jäh, wenn es heißt, man kaufe sie, um die kostbaren eigenen Kinder zu schützen.»
«Ein totes Kind ist nicht gerade was Schönes», sagte Katz. «Also, ich nehme mal an, ihr tretet nicht für Kindermord ein.»
«Natürlich nicht», sagte Walter. «Wir wollen nur darauf hinarbeiten, dass Kinderkriegen eher peinlich ist. So wie Rauchen peinlich ist. So wie Fettsein peinlich ist. So wie es peinlich wäre, einen Escalade zu fahren, gäbe es das Baby-Argument nicht mehr. So wie es peinlich sein sollte, in einem Vierhundert-Quadratmeter-Haus auf einem anderthalb Hektar großen Grundstück zu leben.»
«», sagte Lalitha, « Das ist die Botschaft, die wir verbreiten müssen.»
Katz blickte in ihre Spinner-Augen: «Du selbst willst keine Kinder.»
«Nein», sagte sie und hielt seinem Blick stand. «Du bist, was, fünfundzwanzig?»
«Siebenundzwanzig.»
«In fünf Jahren könntest du anders darüber denken. Die Uhr am Herd fängt so um die dreißig an zu ticken. Das ist jedenfalls meine Erfahrung mit Frauen.»
«Bei mir nicht», sagte sie und riss, um das zu unterstreichen, ihre ohnehin schon sehr runden Augen noch weiter auf.
«Kinder sind was Schönes», sagte Walter. «Kinder waren schon immer der Sinn des Lebens. Man verliebt sich, man pflanzt sich fort, dann wachsen die Kinder auf und verlieben sich und pflanzen sich fort. Das Leben war immer dafür da. Fürs Schwangersein. Für mehr Leben. Heute ist das Problem allerdings, dass mehr Leben auf der individuellen Ebene zwar weiterhin schön und sinnvoll ist, für die Welt als Ganzes aber mehr Tod bedeutet. Und zwar keinen angenehmen Tod. Es sieht so aus, dass wir in den kommenden hundert Jahren die Hälfte aller Arten weltweit verlieren. Uns steht die größte Massenausrottung seit mindestens der Kreide-Tertiär-Grenze bevor. Erst erleben wir die totale Zerstörung aller Ökosysteme, dann Massenhungersnöte und/oder Massenkrankheiten und/oder Massenmorde. Was auf der individuellen Ebene noch ist, ist auf der globalen abscheulich und beispiellos.»
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