So unglaublich es klingen mag, aber seit der Zeit im Zimmer 21 war sie nicht mehr allein in einem Hotel gewesen, und ihr plüschiges Komfortzimmer im Sofitel beeindruckte sie sehr. Während sie auf Richard wartete, inspizierte sie alle Annehmlichkeiten genau und inspizierte sie noch einmal, als die vereinbarte Uhrzeit kam und verstrich. Sie versuchte fernzusehen, aber das ging nicht. Als das Telefon schließlich klingelte, war sie nur noch ein Haufen Nervenzellmasse.
«Es ist was dazwischengekommen», sagte Richard.
«Aha. Soso. Es ist was dazwischengekommen. Aha.» Sie ging zum Fenster und blickte auf Philadelphia. «Was denn? Irgendein kurzer Rock?»
«Allerliebst», sagte Richard.
«Ach, gib mir ein bisschen Zeit», sagte sie, «und ich liefere dir jedes nur denkbare Klischee. Was Eifersucht betrifft, haben wir noch nicht mal angefangen. Das hier ist quasi Minute eins in Sachen Eifersucht.»
«Es gibt keine andere.»
«Keine einzige? Es hat keine einzige andere gegeben? Mein Gott, da habe ja selbst ich mich schlechter benommen. Auf meine rührende eheliche Weise.»
«Ich habe nicht gesagt, dass es keine einzige andere gegeben hat. Ich habe gesagt, es gibt keine andere.»
Sie drückte den Kopf gegen die Scheibe. «Entschuldige», sagte sie. «Ich fühle mich auf einmal zu alt, zu hässlich, zu dumm, zu eifersüchtig. Ich finde es unerträglich, was aus meinem Mund kommt.»
«Er hat mich heute Morgen angerufen», sagte Richard.
«Wer?»
«Walter. Ich hätte es klingeln lassen sollen, aber ich bin drangegangen. Er sagte, dass er früh aufgestanden ist, um dich zum Flughafen zu bringen, und dass er dich vermisst. Und dass es in letzter Zeit sehr schön ist mit euch beiden. — so in etwa hat er es, glaube ich, gesagt.»
Patty schwieg.
«Und dass du vorhast, Jessica zu besuchen. Worüber sie sich insgeheim sehr freut, sie hat nur Angst, dass du irgendwas Komisches sagen und sie bloßstellen könntest oder ihren neuen Freund vielleicht nicht magst. Und wie froh er selber ist, dass du das ihr zuliebe tust.»
Patty zappelte dort am Fenster herum, das Zuhören fiel ihr schwer.
«Und dass ihn wegen einiger Dinge, die er mir letzten Winter erzählt hat, ein schlechtes Gewissen quält. Dass ich nichts Falsches von dir denken soll. Dass der letzte Winter furchtbar war, wegen Joey, jetzt aber alles viel besser ist. , ich glaube, so hat er es gesagt.»
Eine Kombination aus Würgen und Schluchzen erzeugte bei Patty einen lachhaft peinlichen Rülpser.
«Was war das?», sagte Richard.
«Nichts. Entschuldige.»
«Na, wie auch immer.»
«Mhm.»
«Und da habe ich beschlossen, nicht zu fahren.»
«Klar. Verstehe ich. Natürlich.»
«Gut.»
«Aber warum kommst du nicht einfach trotzdem her. Ich meine, wo ich nun schon mal hier bin. Und danach kehre ich in mein unfassbar glückliches Leben zurück, und du fährst wieder nach New Jersey.»
«Ich habe nur wiedergegeben, was er gesagt hat.»
«Mein einfach unfassbar glückliches Leben.»
Oh, die Versuchungen des Selbstmitleids. So süß für Patty, so unwiderstehlich der Drang, ihm eine Stimme zu verleihen, und so abstoßend für ihn. Sie registrierte den Moment, in dem sie einen Schritt zu weit gegangen war, genau. Wenn sie ruhig und beherrscht geblieben wäre, vielleicht hätte sie ihn dann umgarnen und überreden können, doch nach Philadelphia zu kommen. Wer weiß? Vielleicht wäre sie nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber sie vermasselte alles durch Selbstmitleid. Sie hörte ihn immer kühler und distanzierter werden, woraufhin sie sich nur noch mehr leidtat, und so weiter und so fort, bis sie schließlich auflegen und sich ganz und gar jener anderen süßen Verlockung hingeben musste.
Wo kam das Selbstmitleid her? In diesem übersteigerten Ausmaß? Sie führte doch in fast jeder Hinsicht ein luxuriöses Leben. Tagtäglich hatte sie von morgens bis abends Zeit, einen Weg zu finden, wie man vernünftig und zufriedenstellend lebte, und dennoch schien sie, bei all ihren Wahlmöglichkeiten und all ihrer Freiheit, immer nur noch unglücklicher zu werden. Die Autobiographin sieht sich beinahe zu der Schlussfolgerung genötigt, dass sie sich selbst dafür bemitleidete, so frei zu sein.
An jenem Abend in Philadelphia kam es zu einer kurzen, jammervollen Begebenheit: Sie ging mit der Absicht, jemanden abzuschleppen, in die Hotelbar hinunter. Dort merkte sie rasch, dass die Welt sich in zwei Gruppen von Menschen unterteilt: diejenigen, die wissen, wie man sich ohne Begleitung auf einem Barhocker wohl fühlt, und diejenigen, die das nicht wissen. Außerdem sahen die Männer einfach zu blöd aus, und zum ersten Mal seit langem begann sie darüber nachzudenken, wie es gewesen war, betrunken zu sein und vergewaltigt zu werden, und ging wieder auf ihr Komfortzimmer, um sich weiteren Schüben von Selbstmitleid hinzugeben.
Am nächsten Morgen fuhr sie in einem Zustand der Bedürftigkeit, der nichts Gutes verhieß, mit einem Pendlerzug zu Jessicas College hinaus. Obwohl sie neunzehn Jahre lang versucht hatte, alles für Jessica zu tun, was ihre Mutter ihr schuldig geblieben war — sie hatte nie auch nur ein einziges Spiel von ihr versäumt, hatte sie mit Anerkennung überschüttet, hatte sich mit den Komplikationen ihres sozialen Lebens vertraut gemacht, hatte bei jeder kleinen Niederlage oder Enttäuschung ihre Partei ergriffen und sich in das Drama ihrer College-Bewerbungen vertieft — , gab es zwischen ihnen, wie schon erwähnt, einen Mangel an wahrer Nähe. Das lag einerseits an Jessicas selbstgenügsamem Wesen und andererseits daran, dass Patty den Bogen bei Joey weit überspannt hatte. An Joey, und nicht an Jessica, hatte sie sich mit ihrem überfließenden Herzen gewandt. Aber die Tür zu Joey war, aufgrund ihrer Fehler, nun geschlossen und versperrt, und als sie den schönen Quaker-Campus betrat, war ihr das Elternwochenende herzlich egal. Sie wollte nur ein bisschen Zeit mit ihrer Tochter allein verbringen.
Leider verstand Jessicas neuer Freund William keine Fingerzeige. William war ein gutmütiger, blonder kalifornischer Fußballspieler, dessen Eltern nicht angereist waren. Er begleitete Patty und Jessica zum Mittagessen, zu Jessicas Kunstgeschichtsvorlesung am Nachmittag und auch in Jessicas Wohnheimzimmer, und als Patty demonstrativ vorschlug, Jessica in der Stadt zum Abendessen einzuladen, entgegnete Jessica, sie habe in der Nähe schon einen Tisch für drei reserviert. In dem Restaurant hörte Patty dann stoisch zu, als William auf Jessicas Anregung hin die wohltätige Organisation beschrieb, die er bereits als Schüler gegründet hatte — irgendeinen grotesk verdienstvollen Verein, der es sich zur Aufgabe gemacht hatte, die Ausbildung armer malawischer Mädchen durch Fußballvereine in San Francisco subventionieren zu lassen. Patty blieb kaum etwas anderes übrig, als immer mehr Wein zu trinken. Beim vierten Glas fand sie, William müsse unbedingt erfahren, dass sie selbst einmal eine hervorragende Collegesportlerin gewesen war. Da Jessica keine Anstalten machte, die Information beizusteuern, dass sie es damals ins Team der zweitbesten Spielerinnen ganz Amerikas geschafft hatte, musste sie diese Information selbst beisteuern, und da das wiederum nach Angeberei klang, glaubte sie, die Geschichte ihres Groupies dagegensetzen zu müssen, was zu Elizas Drogensucht und Leukämielüge und Pattys Kniedesaster hinführte. Sie redete laut und, so dachte sie, unterhaltsam, aber anstatt zu lachen, blickte William aus dem Augenwinkel immer wieder nervös zu Jessica hinüber, die mit verschränkten Armen dasaß und mürrisch dreinschaute.
«Und worauf wolltest du jetzt hinaus?», sagte sie schließlich.
«Auf nichts Bestimmtes», sagte Patty. «Ich erzähle euch nur, wie es damals war, als ich aufs College ging. Ich wusste ja nicht, dass euch das nicht interessiert.»
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