«Ich habe unheimlich viel gelesen», sagte sie. «Ich glaube, Krieg und Frieden ist das beste Buch, das ich kenne.»
«Du machst mich eifersüchtig», sagte Walter.
«Hm?»
«Na, weil es so phantastisch ist, das Buch zum ersten Mal zu lesen. Ganze Tage Zeit dafür zu haben.»
«Ja, das war auch toll. Ich glaube, dass es mich irgendwie verändert hat.»
«Du wirkst tatsächlich ein bisschen verändert.»
«Hoffentlich nicht zum Schlechten.»
«Nein. Nur anders.»
Am Abend, als sie mit ihm im Bett lag, zog sie ihren Pyjama aus und merkte erleichtert, dass sie Walter nach allem, was sie getan hatte, mehr begehrte und nicht weniger. Der Sex mit ihm war schön. Es war gar nicht so viel daran auszusetzen.
«Wir müssen das öfter machen», sagte sie.
«Jederzeit. Wirklich jederzeit.»
In jenem Sommer erlebten sie eine Art zweiter Flitterwochen, befeuert von Pattys Reue und sexueller Verwirrung. Sie strengte sich enorm an, eine gute Ehefrau zu sein und ihren sehr guten Ehemann zufriedenzustellen, aber ein vollständiger Bericht vom Erfolg ihrer Anstrengungen muss die E-Mails einschließen, die sie und Richard einander wenige Tage nach seiner Abfahrt zu schreiben begannen, ebenso wie die Tatsache, dass sie ihm ein paar Wochen später irgendwie grünes Licht geben konnte, nach Minneapolis zu fliegen und für die Zeit, in der Walter sich auf einer weiteren VIP-Reise, diesmal zu den Boundary Waters, befand, zu ihr an den Namenlosen See zu kommen. Sie löschte die E-Mail mit Richards Flugdaten sofort, so wie sie es mit allen anderen auch gemacht hatte, allerdings nicht ohne sich Flugnummer und Ankunftszeit vorher genau eingeprägt zu haben.
Eine Woche vor dem vereinbarten Tag fuhr sie allein an den See und gab sich dort ganz und gar ihrer Derangiertheit hin. Dazu gehörte, dass sie sich jeden Abend sternhagelvoll laufen ließ, später von Panik, Gewissensbissen und Unschlüssigkeit gebeutelt aufwachte, dann den ganzen Vormittag verschlief, dann in einem Schwebezustand trügerischer Ruhe Romane las, dann aufsprang und eine Stunde oder länger in der Nähe des Telefons auf und ab ging, weil sie sich nicht entscheiden konnte, ob sie Richard anrufen und ihm absagen sollte oder nicht, und schließlich eine Flasche öffnete, damit das Ganze für ein paar Stunden aufhörte.
Langsam schrumpfte die Zahl der verbleibenden Tage gegen null. Am letzten Abend trank sie bis zum Erbrechen, schlief im Wohnzimmer ein und kam irgendwann vor Morgengrauen schockartig wieder zu Bewusstsein. Damit ihre Hände und Arme wenigstens so weit zu zittern aufhörten, dass sie Richards Nummer wählen konnte, musste sie sich auf den immer noch unverfugten Küchenfußboden legen.
Sie erreichte seinen Anrufbeantworter. Er hatte eine kleinere Wohnung gefunden, ein paar Straßen von der alten entfernt. Wenn sie sich dieses neue Domizil vorstellte, sah sie immer nur eine größere Version des schwarzen Zimmers in jener Wohnung vor sich, die er mit Walter geteilt und in der sie dann seinen Platz eingenommen hatte. Sie wählte erneut, und wieder sprang der Anrufbeantworter an. Beim dritten Versuch nahm Richard ab.
«Komm nicht», sagte sie. «Ich kann das nicht.»
Er sagte nichts, aber sie hörte ihn atmen.
«Es tut mir leid», sagte sie.
«Ruf mich doch in ein paar Stunden nochmal an. Wer weiß, wie es dir am Morgen geht.»
«Ich habe gekotzt. Musste mich übergeben.»
«Das klingt nicht gut.»
«Bitte komm nicht. Ich verspreche dir, dass ich dich von jetzt an in Ruhe lasse. Offenbar musste ich erst bis an die Grenze gehen, um zu merken, dass ich das nicht kann.»
«Hm, ja, das leuchtet mir ein.»
«Es ist doch richtig so, oder?»
«Wahrscheinlich. Ja. Ich glaube schon.»
«Ich kann ihm das nicht antun.»
«Gut. Dann komme ich nicht.»
«Es ist nicht so, dass ich nicht möchte, dass du kommst. Ich bitte dich nur, es nicht zu tun.»
«Ich mache, was du willst.»
«Ach Gott, hör mir doch zu. Ich bitte dich zu tun, was ich nicht will.»
Wahrscheinlich rollte er jetzt, in Jersey City, mit den Augen. Aber sie wusste, er wollte sie sehen, er war bereit, am Vormittag ins Flugzeug zu steigen, und die einzige Methode, sich endgültig darauf zu einigen, dass er nicht kam, war die, das Gespräch auf zwei Stunden auszudehnen, sich wieder und wieder im Kreis zu drehen und den unlösbaren Konflikt auszutragen, bis sie sich beide so besudelt und erschöpft fühlten und sich selbst und den anderen derart satthatten, dass die Aussicht, sich zu treffen, jeden Reiz verlor.
Ein nicht geringer Teil des Kummers, den sie empfand, nachdem sie aufgelegt hatten, erwuchs aus dem Gefühl, dass sie Richards Liebe verschwendete. Sie kannte ihn als einen Mann, dem Weiberquatsch gehörig auf die Nerven ging, und der Umstand, dass er in ihrem Fall zwei geschlagene Stunden davon ausgehalten hatte, also ungefähr 119 Minuten mehr, als aushalten zu können seiner Natur entsprach, erfüllte sie mit Dankbarkeit und Bedauern über die Verschwendung, die Verschwendung. Die Verschwendung seiner Liebe.
Woraufhin sie — was sich beinahe von selbst versteht — zwanzig Minuten danach erneut bei ihm anrief und ihm eine weitere, etwas kürzere, aber noch erbärmlichere Version des ersten Telefonats zumutete. Es war eine kleine Vorausschau auf das, was sie einst weit ausführlicher mit Walter in Washington exerzieren sollte: Je mehr sie sich bemühte, seine Geduld zu erschöpfen, umso mehr Geduld brachte er auf, und je mehr Geduld er aufbrachte, umso schwerer war es, von ihm abzulassen. Zum Glück war Richards Geduld mit ihr, im Unterschied zu Walters, nicht einmal annähernd unendlich. Irgendwann legte er einfach auf, und als sie ihn eine Stunde später, kurz bevor es nach ihren Berechnungen Zeit gewesen wäre, zum Newark Airport aufzubrechen, falls er den Flug noch hätte bekommen wollen, ein drittes Mal anrief, nahm er nicht mehr ab.
Sie hatte kaum geschlafen und das wenige, was sie am Tag zuvor gegessen hatte, wieder von sich gegeben, und doch fühlte sie sich augenblicklich frischer, klarer und kräftiger. Sie machte das ganze Haus sauber, las die Hälfte eines Romans von Joseph Conrad, den Walter ihr empfohlen hatte, und kaufte keinen weiteren Wein. Als Walter von den Boundary Waters zurückkam, kochte sie ihm ein exzellentes Abendessen, schlang ihm die Arme um den Hals und brachte ihn — eine Seltenheit — sogar dazu, sich ein wenig gegen die Heftigkeit ihrer Zuneigung zu sträuben.
Genau das wäre der Moment gewesen, nach einer Arbeitsstelle zu suchen oder noch eine Ausbildung anzufangen oder ehrenamtlich tätig zu werden. Aber irgendetwas schien immer dagegen zu sprechen. Da war die Möglichkeit, dass Joey einlenken und für die Dauer seines letzten Schuljahres wieder nach Hause kommen würde. Da waren das Haus und der Garten, die sie in ihrem Jahr des Trinkens und Trübsalblasens vernachlässigt hatte. Da war ihre kostbare Freiheit, sooft sie wollte für mehrere Wochen an den Namenlosen See zu fahren. Da war eine umfassendere Freiheit, die sie, wie sie sehr wohl wusste, krank machte und die sie trotzdem nicht aufgeben konnte. Da war das Elternwochenende an Jessicas College in Philadelphia, an dem Walter nicht teilnehmen konnte, Patty dagegen teilnehmen wollte, was ihn wiederum sehr freute, weil er manchmal befürchtete, das Verhältnis zwischen ihr und Jessica sei vielleicht nicht eng genug. Und dann waren da die Wochen, die dem Elternwochenende vorausgingen, Wochen des regen E-Mail-Verkehrs mit Richard, Wochen, in denen sie sich das Hotelzimmer in Philadelphia ausmalte, wo sie einen Tag und eine Nacht zusammen von der Bildfläche verschwinden wollten. Und dann waren da die Monate schwerer Depressionen nach dem Elternwochenende.
Sie war an einem Donnerstag nach Philadelphia geflogen, um, wie sie Walter gewissenhaft erklärt hatte, einen Tag als Touristin allein in der Stadt zu verbringen. Im Taxi unterwegs zum Stadtzentrum verspürte sie einen jähen Stich des Bedauerns, dass es nicht genauso sein konnte: dass sie nicht als unabhängige erwachsene Frau durch die Straßen gehen, ein unabhängiges Leben führen und eine besonnene, wissbegierige Touristin sein konnte anstatt eine liebeshungrige Irre.
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