Im Coop von Fen City stand sie vor der mickrigen Auswahl heimischer Biere, den Millers, Coors' und Budweisers, und versuchte, eine Entscheidung zu treffen. Hielt ein Sixpack in der Hand, als könnte sie im Voraus, durch das Aluminium der Dosen hindurch, beurteilen, wie es ihr gehen würde, wenn sie das Bier trank. Richard hatte ihr gesagt, sie solle mit dem Trinken aufpassen; betrunken hatte er sie abstoßend gefunden. Sie stellte das Sixpack wieder ins Regal und riss sich los, um weniger attraktive Abteilungen des Ladens anzusteuern, aber es war schwer, ein Abendessen zu planen, wenn einem speiübel war. Sie kehrte zu den Bierregalen zurück wie ein Vogel, der immer dieselbe Melodie singt. Die diversen Bierdosen waren verschieden gestaltet, dabei enthielten sie alle das gleiche dünne, minderwertige Gebräu. Ihr kam der Gedanke, dass sie nach Grand Rapids fahren und anständigen Wein kaufen könnte. Ihr kam auch der Gedanke, dass sie zum Haus zurückfahren könnte, ohne überhaupt etwas gekauft zu haben. Aber was wäre dann? Eine Müdigkeit befiel sie, als sie so dastand und schwankte: eine Vorahnung, dass nichts von dem, was nun geschehen mochte, ihr genügend Erleichterung oder Freude verschaffen würde, um ihr gegenwärtiges, von Herzrasen begleitetes Elend aufzuwiegen. Ihr wurde, anders gesagt, bewusst, was es bedeutete, zu einem zutiefst unglücklichen Menschen geworden zu sein. Und doch beneidet und bemitleidet die Autobiographin die jüngere Patty, wie sie da im Coop von Fen City steht und in aller Unschuld glaubt, dass sie am Tiefpunkt angelangt sei: dass sich die Krise, auf die eine oder andere Weise, in den folgenden fünf Tagen lösen werde.
Ein pummeliger Teenager an der Kasse zeigte jetzt Interesse an ihrer Paralysiertheit. Patty warf dem Mädchen ein irres Lächeln zu und ging los, um ein in Plastik verpacktes Huhn, fünf hässliche Kartoffeln und ein paar armselige, schlappe Lauchstangen zu holen. Das Einzige, sagte sie sich, was noch schlimmer wäre, als ihrer Angst im nicht betrunkenen Zustand ausgesetzt zu sein, war, betrunken und ihr trotzdem ausgesetzt zu sein.
«Ich schiebe uns gleich ein Huhn in den Ofen», sagte sie zu Richard, als sie wieder zu Hause war.
Sägemehl hing ihm in den Haaren und Augenbrauen und klebte an seiner verschwitzten breiten Stirn. «Das ist sehr nett von dir», sagte er.
«Sieht wirklich toll aus, die Terrasse», sagte sie. «Ein echter Gewinn. Was meinst du, wie lange du noch brauchen wirst?»
«Paar Tage vielleicht.»
«Also, den Rest können Walter und ich auch erledigen, wenn du wieder nach New York zurück möchtest. Du wolltest doch eigentlich längst wieder dort sein.»
«Ich bringe Arbeiten gern zu Ende», sagte er. «Wird nicht mehr als ein paar Tage dauern. Oder wärst du hier lieber allein?»
«Ob ich hier lieber allein wäre?»
«Immerhin mache ich ganz schön viel Lärm.»
«Nein nein, ich mag das. Baulärm hat irgendwie was Beruhigendes.»
«Es sei denn, er kommt von den Nachbarn.»
«Na ja, diese speziellen Nachbarn hasse ich nun mal, das kann man nicht vergleichen.»
«Stimmt.»
«Dann kümmere ich mich jetzt wohl am besten mal um das Huhn.»
Damit, wie sie das gesagt hatte, musste sie sich verraten haben, denn Richard sah sie mit einem leichten Stirnrunzeln an. «Alles in Ordnung?»
«Nein nein nein», sagte sie. «Ich bin so gern hier oben. Unheimlich gern. Es gibt für mich auf der ganzen Welt keinen schöneren Ort. Dadurch löst sich nichts, wenn du weißt, was ich meine. Aber hier stehe ich morgens gerne auf. Und ich rieche die Luft so gern.»
«Was ich meinte, war: Ist es in Ordnung für dich, dass ich hier bin?»
«Ach so, völlig. 0 Gott. Ja. Völlig. Jaaa! Ich meine, du weißt ja, wie gern Walter dich hat. Wir sind schon so lange mit dir befreundet, aber mir kommt es so vor, als hätte ich mich fast noch nie richtig mit dir unterhalten. Das ist doch mal eine gute Gelegenheit. Aber du sollst wirklich nicht das Gefühl haben, du müsstest bleiben, wenn du doch lieber nach New York zurück möchtest. Ich bin es gewohnt, hier oben allein zu sein. Kein Problem.»
Sie schien sehr lange gebraucht zu haben, um ans Ende dieser Rede zu gelangen. Darauf folgte ein kurzes Schweigen zwischen ihnen.
«Ich versuche nur herauszuhören, was du wirklich meinst», sagte Richard dann. «Ob du mich wirklich hierhaben willst oder nicht.»
«Mein Gott», sagte sie, «das sage ich doch die ganze Zeit, oder? Habe ich das nicht gerade gesagt?»
Sie sah seine Geduld mit ihr, seine Geduld mit einem weiblichen Wesen, dahinschwinden. Er rollte mit den Augen und nahm ein Stück Kantholz in die Hand. «Ich packe jetzt hier zusammen und gehe schwimmen.»
«Es wird kalt sein.»
«Jeden Tag ein bisschen weniger.»
Als sie ins Haus zurückging, empfand sie einen krampfhaften Anflug von Neid auf Walter, der Richard sagen durfte, wie sehr er ihn mochte, und im Gegenzug nichts Destabilisierendes erwartete, nichts Schlimmeres jedenfalls, als dass er wiedergemocht wurde. Wie leicht Männer es hatten! Im Vergleich dazu kam sie sich wie eine aufgedunsene sesshafte Spinne vor, die Jahr für Jahr ihr trockenes Netz spann und wartete. Auf einmal verstand sie, wie den Mädchen damals zumute gewesen war, den Mädchen im College, die Walter seinen freien Zugang zu Richard übelgenommen und sich über seine lästige Gegenwart geärgert hatten. Für einen Moment sah sie Walter mit Elizas Augen.
Vielleicht muss ich es tun, vielleicht muss ich es tun, vielleicht muss ich es tun, sagte sie zu sich selbst, während sie das Huhn wusch und sich einredete, dass sie es ja nicht ernst meinte. Vom See her hörte sie ein Platschen, und schon beobachtete sie, wie Richard im Baumschatten auf Wasser zuschwamm, das noch vom Nachmittagslicht vergoldet war. Wenn er Sonnenschein wirklich hasste, so wie er es in seinem alten Song behauptete, dann war der Norden von Minnesota im Juni für ihn ein heikler Aufenthaltsort. Die Tage waren so lang, dass man sich fragte, warum der Sonne am Ende nicht der Kraftstoff ausging. Sie brannte einfach immer weiter. Patty gab einem Impuls nach, sich zwischen die Beine zu fassen, wie um den feuchten Schock zu spüren, ohne dass sie selber schwimmen ging. Bin ich noch lebendig? Habe ich einen Körper?
Die Kartoffelstücke, die sie geschnitten hatte, waren sehr seltsam geformt. Sie sahen aus wie geometrische Denksportaufgaben.
Nachdem er geduscht hatte, kam Richard in einem T-Shirt ohne Aufdruck, das ein paar Jahrzehnte zuvor wohl einmal knallrot gewesen war, in die Küche. Sein Haar war für den Moment gebändigt und von einem jugendlichen, glänzenden Schwarz.
«Du hast im Winter dein Aussehen verändert», sagte er zu Patty.
«Nein.»
«Was heißt hier ? Du hast eine andere Frisur, du siehst toll aus.»
«So anders ist die Frisur doch gar nicht. Kaum der Rede wert.»
«Und — möglicherweise ein bisschen zugenommen?»
«Nein. Naja. Ein bisschen.»
«Das steht dir gut. Du siehst besser aus, wenn du nicht so dünn bist.»
«Ist das eine nette Art zu sagen, dass ich dick geworden bin?»
Er schloss die Augen und verzog das Gesicht, als müsste er sich bemühen, geduldig zu bleiben. Dann öffnete er sie wieder und sagte: «Was soll der Quatsch?»
«Hm?»
«Willst du, dass ich abfahre? Ist es das? Du benimmst dich die ganze Zeit so komisch, dass ich den Eindruck habe, du fühlst dich in meiner Gegenwart nicht wohl.»
Das Huhn im Ofen roch so ähnlich wie Dinge, die sie früher gegessen hatte. Sie wusch sich die Hände und trocknete sie ab, kramte tief hinten in einem nicht restlos aufgearbeiteten Schrank und fand eine mit Baustaub bedeckte Flasche Kochsherry. Sie goss sich ein Saftglas davon voll und setzte sich zu ihm an den Tisch. «Na gut, ganz ehrlich? Es macht mich ein bisschen nervös, dass du hier bist.»
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