Wie er dem Nachbarsmädchen treu und ergeben sein konnte, war ihr schleierhaft. Sie glaubte, dass Connie Monaghan, hinterhältige kleine Wettkämpferin, die sie war, es geschafft hatte, ihn mit einer Art dreckigem vorübergehendem Bann zu belegen. Sie brauchte verheerend lange, um den Ernst der Monaghan'schen Bedrohung zu erkennen, und in den Monaten, als sie Joeys Gefühle für das Mädchen unterschätzte — als sie dachte, sie könnte Connie einfach wegekeln und ihre schlampige Mutter und deren verstockten Freund unbeschwert verulken, und schon bald hätte auch Joey nur noch Spott für sie übrig — , gelang es ihr, die Arbeit von fünfzehn Jahren, in denen sie sich alle Mühe gegeben hatte, eine gute Mutter zu sein, zunichtezumachen. Sie vermasselte es gewaltig, das muss man schon sagen, und in der Folge geriet sie ziemlich aus dem Gleichgewicht. Sie hatte üble Auseinandersetzungen mit Walter, in denen er ihr vorwarf, sie sorge dafür, dass Joey ihnen vollends entgleite, wogegen sie sich nicht richtig verteidigen konnte, weil sie ihre tiefe, krankhafte Überzeugung, dass Walter ihre Freundschaft zu ihrem Sohn zerstört hatte, nicht äußern durfte. Indem er ihr Bett teilte, indem er ihr Ehemann war, indem er darauf pochte, dass sie auf der Erwachsenenseite blieb, hatte Walter Joey weisgemacht, Patty befände sich im feindlichen Lager. Dafür hasste sie Walter und haderte mit ihrer Ehe, und Joey zog zu Hause aus und bei den Monaghans ein und ließ alle mit bitteren Tränen für ihre Fehler bezahlen.
Obwohl sie hiermit kaum an der Oberfläche gekratzt hat, ist es mehr, als die Autobiographin über diese Jahre eigentlich hatte sagen wollen, und jetzt wird sie tapfer voranschreiten.
Einen kleinen Vorteil brachte es immerhin mit sich, dass sie das Haus mehr für sich hatte, denn nun konnte sie die Musik hören, die sie wollte, insbesondere die Countrymusik, bei deren leisesten Anklängen Joey bereits gequält und voller Abscheu aufgejault hatte und von der Walter mit seinen Collegeradio-Vorlieben nur eine schmale und vorwiegend klassische Auswahl tolerierte: Patsy Cline, Hank Williams, Roy Orbison, Johnny Cash. Patty mochte all diese Sänger auch, aber Garth Brooks und die Dixie Chicks mochte sie nicht weniger. Sobald Walter am Morgen zur Arbeit aufgebrochen war, drehte sie den Ton auf eine mit Denken unvereinbare Lautstärke und tauchte in Leidensgeschichten ein, die ihrer eigenen ähnlich genug waren, um etwas Tröstliches an sich zu haben, und doch auch weit genug davon abwichen, um irgendwie amüsant zu sein. Patty brauchte Texte und Geschichten — Walter hatte es längst aufgegeben, sie für Ligeti und Yo La Tengo zu interessieren — und wurde untreuer Männer und starker Frauen und des unerschütterlichen Lebensmuts von Menschen nie müde.
Zur selben Zeit gründete Richard seine neue Alternative-Country-Band Walnut Surprise, mit drei jungen Männern, die zusammengenommen nicht viel älter waren als er allein. Richard hätte womöglich mit den Traumatics weitergemacht und weitere Alben ins Nichts geschickt, wenn sich nicht ein merkwürdiger Unfall ereignet hätte, der nur Herrera passieren konnte, seinem alten Freund und Bassisten, dessen Schlendrian und Desorganisiertheit Richard im Vergleich zu ihm wie den Mann im grauen Flanell aussehen ließen. Nachdem Herrera Jersey City für zu bourgeois (!) und nicht deprimierend genug befunden hatte, war er nach Bridgeport, Connecticut, gezogen und hatte dort in einem Elendsviertel seine Zelte aufgeschlagen. Eines Tages nahm er in Hartford an einer Kundgebung für Ralph Nader und andere Kandidaten der Green Party teil und dachte sich ein Spektakel aus, das er Dopplerpus nannte, bestehend aus einem gemieteten Karussell in Form eines Oktopusses, auf dessen Tentakeln er und sieben Freunde von ihm saßen und über tragbare Verstärker Klagelieder sangen, während das Karussell sie im Kreis herumfliegen ließ und den Sound auf interessante Weise verzerrte. Herreras Freundin erzählte Richard später, der Dopplerpus sei «phantastisch» gewesen, ein «Riesenhit» für die «mehr als hundert» Leute, die zu der Kundgebung gekommen seien, aber danach, als Herrera alles wieder eingepackt habe, sei sein Kleinbus plötzlich einen Abhang hinuntergerollt, und Herrera sei hinterhergerannt und habe durchs Fenster in den Wagen hineingegriffen und das Lenkrad gepackt, woraufhin der Kleinbus im Herumschleudern gegen eine Steinmauer geprallt sei und ihn eingequetscht habe. Irgendwie hatte er es geschafft, zu Ende einzupacken und, immer wieder Blut hustend, zurück nach Bridgeport zu fahren, wo er an einem Riss in der Milz, fünf gebrochenen Rippen, einem gebrochenen Schlüsselbein und einem perforierten Lungenflügel beinahe draufgegangen wäre, hätte ihn seine Freundin nicht gerade noch rechtzeitig in ein Krankenhaus gebracht. Der Unfall, der auf die Enttäuschungen mit Insanely Happy folgte, schien Richard ein kosmisches Zeichen zu sein, und da er nicht leben konnte, ohne Musik zu machen, hatte er sich mit einem jungen Fan von ihm zusammengetan, der mörderisch gut Pedal-Steel-Gitarre spielte, und Walnut Surprise war geboren.
Richards Privatleben war in kaum besserem Zustand als Walters und Pattys. Er hatte auf der letzten Traumatics-Tournee mehrere tausend Dollar Verlust gemacht und dann dem nichtkrankenversicherten Herrera weitere Tausende für dessen Behandlungskosten «geliehen», und seine häusliche Situation ging, wie er Walter am Telefon sagte, gerade den Bach runter. Was Richards ganze Existenz seit zwanzig Jahren überhaupt möglich machte, war seine große Erdgeschosswohnung in Jersey City, für die er eine so geringe Miete zahlte, dass sie als nominell zu bezeichnen war. Richard konnte sich nie dazu aufraffen, irgendetwas auszurangieren, und die Wohnung war so groß, dass er das auch nicht musste. Auf einer seiner Reisen nach New York war Walter dort gewesen und hatte berichtet, der Flur vor Richards Wohnungstür sei mit ausgedienten Stereoanlagen, Matratzen und Ersatzteilen für seinen Pick-up-Truck zugemüllt, während der Hinterhof sich mehr und mehr mit Zubehör und Überbleibsein seiner Dachterrassenbauerei fülle. Das Beste sei noch ein Zimmer im Keller direkt unter seiner Wohnung, wo die Traumatics hätten proben (und später aufnehmen) können, ohne die anderen Mieter zu sehr zu stören. Richard war immer auf ein gutes Einvernehmen mit ihnen bedacht gewesen, aber nach seiner Trennung von Molly hatte er sich den schlimmen Fehler geleistet, einen Schritt weiterzugehen und mit einer von ihnen etwas anzufangen.
Zuerst hatte darin niemand einen Fehler gesehen außer Walter, der sich für einzigartig qualifiziert hielt, den Murks zu erkennen, den Richard bei Frauen machte. Ais Richard am Telefon sagte, es sei jetzt an der Zeit, die Kindereien hinter sich zu lassen und eine richtige Beziehung mit einer erwachsenen Frau einzugehen, hatten die Alarmglocken in Walters Kopf zu läuten begonnen. Die Frau war eine Ecuadorianerin namens Ellie Posada. Sie war Ende dreißig und hatte zwei Kinder, deren Vater, ein Limousinen-Chauffeur, angefahren und getötet worden war, als sein Wagen auf dem Pulaski Skyway eine Panne gehabt hatte. (Richard, das entging Pattys Aufmerksamkeit nicht, trieb es zwar mit vielen sehr jungen Mädchen aus Spaß, die Frauen jedoch, mit denen er längerfristige Beziehungen hatte, waren so alt wie er oder sogar älter.) Ellie arbeitete bei einer Versicherungsagentur und wohnte auf derselben Etage wie Richard ihm genau gegenüber. Fast ein Jahr lang erstattete er Walter frohgemut Bericht darüber, wie unerwartet gut ihre Kinder und er sich verstünden und wie großartig es sei, zu einer Frau wie Ellie nach Hause zu kommen, und wie uninteressant er jetzt alle Frauen, die nicht Ellie seien, finde, und dass er seit damals, als sie beide zusammengewohnt hätten, nicht mehr so gut gegessen oder sich so gesund gefühlt habe und (hier schrillten Walters Alarmglocken nun wirklich los) wie faszinierend er das Versicherungswesen finde. Zu Patty sagte Walter, er habe während dieses demonstrativ glücklichen Jahrs etwas verräterisch Entrücktes oder Geistesabwesendes oder Verträumtes aus Richards Tonfall herausgehört, und es kam für ihn keineswegs überraschend, als Richards Natur ihn schließlich wieder einholte. Die Musik, die er mit Walnut Surprise zu machen begann, entpuppte sich als mindestens so faszinierend wie das Versicherungswesen, und die spindeldürren Tussen in der Umlaufbahn seiner jungen Bandmitglieder entpuppten sich als doch nicht so uninteressant, und Ellie entpuppte sich als strenge Gesetzesauslegerin, was die Ausschließlichkeit sexueller Kontakte betraf, und schon bald hatte er Angst, abends sein eigenes Gebäude zu betreten, weil Ellie dort auf der Lauer lag. Kurz darauf stachelte sie die anderen Mieter des Gebäudes dazu an, sich in Form einer Sammelbeschwerde über die ungeheuerliche Aneignung der Gemeinschaftsräume durch Richard zu beklagen, und sein bis dahin nicht in Erscheinung getretener Vermieter schickte ihm unbarmherzige Einschreiben, und am Ende war Richard, im Alter von vierundvierzig Jahren, mitten im Winter obdachlos, hatte alle seine Kreditkartenlimits ausgeschöpft und eine monatliche Rechnung von dreihundert Dollar für die Lagerung seines Schamotts zu zahlen.
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