Die Einzelheiten ihrer Gespräche über Patty sind leider nicht bekannt, aber der Autobiographin gefällt der Gedanke, dass sie völlig anders waren als die Gespräche über Nomi oder Eliza. Denkbar ist, dass Richard Walter gedrängt hat, ihr gegenüber entschlossener aufzutreten, worauf Walter irgendeinen Mumpitz erwidert haben mag, etwa dass sie doch vergewaltigt worden sei oder an Krücken gehe, aber es gibt weniges, das man sich schwerer vorstellen kann als die Gespräche anderer Leute über einen selbst. Was Richard insgeheim für Patty empfand, wurde ihr eines Tages klarer; darauf kommt die Autobiographin zu einem späteren Zeitpunkt noch zurück. Vorläufig genügt es festzuhalten, dass er nach New York zog und dort blieb, während Walter ein paar Jahre lang zu sehr damit beschäftigt war, sein eigenes Leben mit Patty aufzubauen, um ihn sonderlich zu vermissen.
Was damals geschah, war, dass Richard mehr zu Richard wurde und Walter mehr zu Walter. Richard ließ sich in Jersey City nieder und meinte, dass es nunmehr unbedenklich sei, mit dem Geselligkeitstrinken zu experimentieren, um dann, nach einer Phase, die er später als «recht ausschweifend» bezeichnete, zu dem Schluss zu kommen, nein, ganz so unbedenklich sei es wohl doch nicht. Solange er mit Walter zusammengewohnt hatte, war es ihm gelungen, den Alkohol, an dem sein Vater zugrunde gegangen war, zu meiden, hatte nur dann gekokst, wenn er dafür kein Geld hinlegen musste, und sich musikalisch ständig weiterentwickelt. Auf sich allein gestellt, war er jedoch eine Zeitlang ziemlich neben der Spur. Er und Herrera brauchten ganze drei Jahre, um die Traumatics wiederzubeleben — mit der hübschen, problembehafteten Blondine Molly Tremain im Bunde, die als Verstärkung für den Gesang hinzugekommen war — und bei einem winzigen Label ihre erste LP, Greetings from the Bottom of the Mine Shaft, herauszubringen. Eines Abends, als die Band in Minneapolis auftrat, ging Walter ins Entry, um sie spielen zu hören, aber gegen halb elf war er, mit sechs Exemplaren der LP unter dem Arm, schon wieder zu Hause bei Patty und der kleinen Jessica. Richard hatte eine Art Nische gefunden, wie er tagsüber Geld verdienen konnte, indem er Dachterrassen für diejenigen Yuppies aus Lower Manhattan baute, denen der Kontakt mit Künstlern und Musikern einen Coolnesskick verschaffte, d. h., die kein Problem damit hatten, wenn der Terrassenbauer seinen Arbeitstag um zwei Uhr am Nachmittag begann und ein paar Stunden später wieder beendete, sodass er für einen Fünftagejob drei Wochen brauchte. Dem zweiten Album der Band, In Case You Hadn't Noticed, wurde nicht mehr Aufmerksamkeit zuteil als dem ersten, aber das dritte, Reactionary Splendor, erschien bei einem weniger winzigen Label und rangierte am Ende des Jahres auf mehreren Charts unter den Top Ten. Als Richard dieses Mal durch Minnesota kam, rief er vorher an und kriegte es auf die Reihe, zusammen mit der höflichen, aber gelangweilten und zumeist schweigenden Molly, die seine Freundin war oder auch nicht, einen Nachmittag bei Patty und Walter zu Hause zu verbringen.
Besonders schön war dieser Nachmittag — so überraschend spärlich Pattys Erinnerungen daran auch sind — für Walter. Patty hatte mit den Kindern und mit dem Versuch, Molly mehrsilbige Wörter zu entlocken, alle Hände voll zu tun, aber Walter konnte all seine Renovierungsarbeiten am Haus zur Schau stellen und den hübschen, energiegeladenen Nachwuchs vorführen, den er mit Patty gezeugt hatte, und dabei zusehen, wie Richard und Molly die beste Mahlzeit ihrer gesamten Tournee verdrückten, und, nicht minder wichtig, Richard reichhaltige Informationen über die alternative Musikszene abzapfen, die er in den darauffolgenden Monaten gut zu verwerten wusste, indem er die Alben aller Künstler kaufte, die Richard ihm genannt hatte, sie während des Renovierens auflegte, die männlichen Nachbarn und Kollegen, die sich selbst für hippe Musikkenner hielten, damit beeindruckte und in dem Gefühl badete, in beiden Welten die Nase vorn zu haben. Der Stand der Dinge, ihre Rivalität betreffend, war für ihn an diesem Tag überaus befriedigend. Richard war abgebrannt, kleinlaut und zu mager, seine Freundin sonderbar und unglücklich. Walter, jetzt zweifelsfrei der große Bruder, konnte sich zurücklehnen und Richards Erfolg als pikantes, hipnessförderndes Beiwerk seines eigenen Erfolgs genießen.
Damals wäre das Einzige, was Walter in jene ungute Gefühlslage hätte zurückversetzen können, die ihn im College gequält hatte, als er gegen den Menschen zu verlieren glaubte, den er zu sehr mochte, um ihn besiegen zu wollen, eine bizarre pathologische Folge von Ereignissen gewesen. Bei ihm zu Hause hätte sich die Lage erheblich verschlechtern müssen. Walter hätte es, in furchtbaren Konflikten mit Joey, misslingen müssen, ihn zu verstehen und seine Achtung zu gewinnen, ja im Prinzip hätte er sich genauso aufführen müssen wie früher sein eigener Vater, und dazu hätte Richards Karriere einen unerwarteten und späten Aufschwung erfahren und Patty sich leidenschaftlich in ihn verlieben müssen. Wie groß war die Chance, dass all dies geschehen würde?
Leider Gottes nicht gleich null.
Man möchte dem Sex ja nicht zu viel Erklärungskraft beimessen, und doch wäre es ein Pflichtversäumnis der Autobiographin, würde sie ihm nicht einen unbequemen Absatz widmen. Die bedauerliche Wahrheit ist die, dass Patty Sex schon bald langweilig und müßig fand — immer die gleiche alte Leier — und hauptsächlich Walter zuliebe mitmachte. Und ja, kein Zweifel, nicht besonders gut mitmachte. Es gab einfach fast immer irgendetwas anderes, das sie lieber getan hätte. Meistens hätte sie lieber geschlafen. Oder es kam ein ablenkendes oder leicht beunruhigendes Geräusch aus einem der Kinderzimmer. Oder sie überschlug im Geist, wie viele unterhaltsame Minuten eines Westküsten-College-Basketballspiels ihr noch bleiben würden, wenn sie endlich den Fernseher wieder einschalten durfte. Aber selbst alltägliche Verrichtungen wie Gartenarbeit, Saubermachen und Einkaufengehen konnten, verglichen mit Sex, äußerst reizvoll und dringend erscheinen, und war der Gedanke erst einmal im Kopf, dass man sich in Windeseile entspannen und in Windeseile Erfüllung finden musste, damit man hinuntergehen und die Fleißigen Lieschen pflanzen konnte, die in ihren kleinen Plastikbehältern vor sich hin welkten, war alles aus. Sie versuchte, Abkürzungen zu nehmen, versuchte, es Walter vorauseilend mit dem Mund zu besorgen, sagte ihm, sie sei müde und er solle ruhig einfach seinen Spaß haben und sich um sie nicht weiter kümmern. Aber der arme Walter war so veranlagt, dass ihm seine eigene Befriedigung weniger wichtig war als ihre oder er sie zumindest an die ihre knüpfte, und irgendwie fand sie nie die richtigen Worte, um ihm auf freundliche Weise klarzumachen, in was für eine missliche Lage er sie damit brachte, denn letzten Endes hätte sie ihm dann doch sagen müssen, dass sie ihn nicht so sehr begehrte wie er sie: dass das Verlangen nach Sex mit ihrem Partner etwas (na gut, das Wichtigste) war, das sie im Tausch gegen all die schönen Seiten ihres gemeinsamen Lebens aufgegeben hatte. Und das dem Mann zu gestehen, den man liebte, erwies sich nun einmal als einigermaßen schwierig. Walter tat sein Möglichstes, damit Sex schöner für sie wurde, nur das Eine, das eventuell funktioniert hätte, tat er nicht, nämlich aufzuhören, sich Gedanken darüber zu machen, wie es schöner für sie werden könnte, und sie stattdessen eines Abends über den Küchentisch zu beugen und von hinten zu nehmen. Aber der Walter, der das hätte tun können, wäre nicht Walter gewesen. Er war, wie er war, und so, wie er war, wollte er von Patty gewollt werden. Er wollte Gegenseitigkeit! Der Nachteil, wenn sie ihm einen blies, war deshalb der, dass er sich dann seinerseits mit dem Mund an ihr zu schaffen machte, wofür sie jedoch viel zu empfindlich war. Erst Jahre später, nachdem sie sich lange dagegen gewehrt hatte, sollte es ihr gelingen, ihn davon abzubringen. Mit dem Ergebnis, dass sie ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte, aber auch wütend und gereizt war, weil sie sich als eine solche Versagerin fühlen musste. Richards und Mollys Müdigkeit an jenem Nachmittag, als sie bei ihnen zu Besuch waren, kam Patty jedenfalls wie die Müdigkeit von Leuten vor, die die ganze Nacht über gevögelt haben, und es sagt eine Menge über ihren damaligen Geisteszustand aus — darüber, wie öde Sex für sie war und wie vollkommen sie darin aufging, Jessicas und Joeys Mutter zu sein — , dass sie die beiden noch nicht einmal darum beneidete. Sex erschien ihr als ein Zeitvertreib für junge Leute, die nichts Besseres zu tun haben. Davon beflügelt wirkten Richard und Molly ganz gewiss nicht.
Читать дальше