Und Richard, erstaunlich genug, mochte ihn. Es fing schon damit an, dass Walter zufällig aus der Stadt kam, in der Bob Dylan aufgewachsen war. Nach der Zusammenkunft, in ihrem Zimmer, bombardierte Richard ihn mit Fragen über Hibbing, wollte wissen, wie es dort so sei und ob Walter irgendwelche Zimmermanns persönlich gekannt habe. Walter erklärte ihm, das Motel liege etliche Kilometer außerhalb der Stadt, aber auch das Motel beeindruckte Richard, ebenso wie die Tatsache, dass Walter ein Vollstipendium hatte, obwohl sein Vater Alkoholiker war. Richard sagte, er habe Walter nicht zurückgeschrieben, weil sein eigener Vater fünf Wochen zuvor an Lungenkrebs gestorben sei. Und er fügte hinzu, dass er sich Hibbing, da Bob Dylan ein Arschloch sei, jene bewundernswerte Reinform von Arschloch, die in einem jungen Musiker den Wunsch entstehen lasse, selbst ein Arschloch zu sein, immer als einen von Arschlöchern wimmelnden Ort vorgestellt habe. Der flaumwangige Walter, der dort in ihrem gemeinsamen Zimmer saß, seinem Mitbewohner eifrig zuhörte und sich nach Kräften bemühte, ihn zu beeindrucken, war eine leibhaftige Widerlegung dieser Theorie.
Schon an jenem ersten Abend machte Richard Bemerkungen über Frauen, die Walter nie vergessen sollte. Er sagte, er sei unangenehm überrascht von dem hohen Prozentsatz an übergewichtigen Tussen am Macalester. Er habe den Nachmittag damit zugebracht, durch die umliegenden Straßen zu gehen und herauszufinden, wo die Stadttussen so rumhingen. Dabei sei ihm aufgefallen, wie viele Leute gelächelt und hallo gesagt hätten. Selbst die gutaussehenden Tussen hätten gelächelt und hallo gesagt. Sei das in Hibbing auch so? Außerdem erzählte er, er habe auf der Beerdigung seines Vaters einen ganz heißen Feger kennengelernt, eine Cousine von ihm, die leider erst dreizehn sei und ihm nun Briefe über ihre Abenteuer beim Masturbieren schreibe. Obwohl Walter zur Fürsorglichkeit gegenüber Frauen eigentlich nie gedrängt werden musste, kann die Autobiographin nicht umhin, an die Herausbildung polarisierender Spezialkompetenzen zu denken, welche die Rivalität zwischen Geschwistern mit sich bringt, und sich zu fragen, ob Richards Besessenheit davon, bei Frauen zu punkten, Walter nicht einen zusätzlichen Anreiz gegeben haben mag, auf diesem konkreten Gebiet nicht zu konkurrieren.
Wichtige Tatsache: Richard hatte keinerlei Beziehung zu seiner Mutter. Sie war noch nicht einmal zur Beerdigung seines Vaters gekommen. Laut dem, was Richard Patty (viel später) erzählte, war die Mutter eine instabile Frau, die eines Tages Nonne wurde, allerdings nicht ohne dem Kerl, der sie mit neunzehn geschwängert hatte, vorher das Leben zur Hölle gemacht zu haben. Richards Vater war Saxophonist und Bohemien im Greenwich Village gewesen, die Mutter ein großgewachsenes, rebellisches WASP-Mädchen aus gutem Hause mit schlechter Selbstbeherrschung. Nach vier wilden Jahren des Trinkens und der seriellen Untreue überließ sie Mr. Katz die Aufgabe, ihren gemeinsamen Sohn großzuziehen (zuerst im Village, dann in Yonkers), und ging nach Kalifornien, wo sie Jesus fand und vier weitere Kinder zur Welt brachte. Mr. Katz hörte mit dem Musikmachen auf, aber leider Gottes nicht mit dem Trinken. Er arbeitete bei der Post und heiratete nie wieder, und man wird mit Sicherheit sagen können, dass seine diversen jungen Freundinnen, die sich in den Jahren, bevor der Alkohol ihn endgültig zugrunde richtete, die Klinke in die Hand gaben, wenig dazu beitrugen, Richard die stabilisierende mütterliche Präsenz zu bieten, die er brauchte. Eine von ihnen raubte die Wohnung aus und verschwand; eine andere erleichterte Richard, als sie auf ihn aufpassen sollte, um seine Jungfräulichkeit. Kurz nach diesem Vorfall schickte Mr. Katz Richard über den Sommer zu seiner Stieffamilie, wo er es jedoch nur eine Woche aushielt. An seinem ersten Tag in Kalifornien versammelte sich die ganze Familie um ihn, und alle fassten sich bei den Händen, um Gott dafür zu danken, dass er heil angekommen war; und von da an wurde es anscheinend immer noch bizarrer.
Walters Eltern, die nur Geselligkeitskirchgänger waren, öffneten dem großgewachsenen Waisen ihr Haus. Vor allem Dorothy schloss Richard ins Herz — hegte womöglich sogar eine züchtige, kleine Dorothyschwäche für ihn — und ermutigte ihn, seine Ferien in Hibbing zu verbringen. Richard brauchte wenig Ermutigung, schließlich hätte er sonst gar nicht gewusst, wohin. Gene war begeistert, weil er sich fürs Schießen interessierte und generell nicht so «etepetete» war, wie er es von einem, mit dem Walter sich anfreundete, befürchtet hatte, und Dorothy beeindruckte er, indem er ihr im Haushalt half. Richard hatte, wie an anderer Stelle bereits angemerkt, den starken (wenn auch äußerst sporadischen) Wunsch, ein guter Mensch zu sein, und zu jemandem wie Dorothy, den er für gut erachtete, war er über die Maßen höflich. Sein Verhalten ihr gegenüber, wenn er sie auf einen schlichten Eintopf ansprach, den sie gekocht hatte, und wissen wollte, woher sie das Rezept habe und wo man sich über ausgewogene Ernährung informieren könne, kam Walter falsch und herablassend vor, weil die Chance, dass Richard tatsächlich jemals Lebensmittel einkaufen gehen und selbst einen Eintopf kochen würde, gleich null war und er sich außerdem in den alten Richard zurückverwandelte, sobald Dorothy den Raum verließ. Aber Walter stand mit ihm in einem Konkurrenzverhältnis, und wenn er auch nicht darin brilliert haben mag, Stadttussen abzuschleppen — Frauen ernsthaft und aufmerksam zuzuhören war sein Gebiet, und er bewachte es streng. In Bezug auf die Authentizität von Richards Achtung vor guten Menschen hält die Autobiographin sich daher für die verlässlichere Quelle als Walter.
Zweifellos imponierend an Richard war sein Bemühen, an sich zu arbeiten und den Mangel auszugleichen, der durch das Fehlen elterlicher Fürsorge entstanden war. Er hatte die Kindheit überlebt, indem er Musik gemacht und nach seinen etwas eigenwilligen Kriterien ausgewählte Bücher gelesen hatte, und was ihn an Walter unter anderem faszinierte, waren dessen Intellekt und Arbeitsmoral. Auf manchen Gebieten war Richard ausgesprochen belesen (französischer Existenzialismus, lateinamerikanische Literatur), aber er hatte keine Methode, kein System, und war voll aufrichtiger Bewunderung für Walters Fähigkeit, sich auf bestimmte Themen zu konzentrieren. Obwohl er Walter genügend Respekt zollte, um ihn von der erwähnten übertriebenen Höflichkeit gegenüber Menschen, die er für gut hielt, zu verschonen, lag ihm doch viel daran, an Walters Gedanken teilzuhaben und sich dessen unkonventionelle politische Überzeugungen von ihm erklären zu lassen.
Die Autobiographin mutmaßt, dass für Richard außerdem ein verquerer Konkurrenzvorteil darin bestand, sich mit einem biederen Typen aus dem Norden des Landes anzufreunden. Es war eine Möglichkeit, sich von den Hipstern am Macalester College abzusetzen, die aus privilegierteren Familien stammten als er. Richard verachtete diese Hipster (die weiblichen eingeschlossen, was jedoch nicht ausschloss, sie zu vögeln, wenn sich die Gelegenheit dazu ergab) genauso so sehr, wie die Hipster Leute wie Walter verachteten. Der Dokumentarfilm über Bob Dylan, Don't Look Back, war sowohl für Richard als auch für Walter ein Prüfstein gewesen, weswegen Patty ihn eines Abends, als die Kinder noch klein waren, auslieh und sich mit Walter zusammen anschaute, um die berühmte Szene zu sehen, in der Dylan auf einer von hippen Leuten wimmelnden Party in London den Sänger Donovan in den Schatten stellt und demütigt, und zwar einzig und allein um des Vergnügens willen, ein Arschloch zu sein. Während Walter Mitleid mit Donovan hatte — und dazu noch an sich selbst zweifelte, weil er keineswegs eher wie Dylan, sondern eher wie Donovan sein wollte — , fand Patty die Szene erregend. Diese atemberaubende Nacktheit von Dylans Drang, der Bessere von beiden zu sein! Ihr Gefühl war: Machen wir uns nichts vor, Erfolg ist süß. Die Szene half ihr zu verstehen, warum Richard es vorgezogen hatte, seine Zeit mit dem Nicht-Musiker Walter anstatt mit den Hipstern zu verbringen.
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