«Allerdings», sagte Joyce mit einem trockenen Lachen.
«Aber irgendjemand muss ja darüber reden und versuchen, Einfluss auf die Politik zu nehmen, sonst werden wir den Planeten zugrunde richten. Wir werden an unserer eigenen Vermehrung ersticken.»
«Apropos ersticken, Daddy», sagte Abigail, «ist das deine Privatflasche, oder dürfen wir auch was davon haben?»
«Wir bestellen noch eine», sagte Ray.
«Ich glaube, wir brauchen keine mehr», sagte Joyce.
Ray hob seine joycebeschwichtigende Hand. «Joyce, also — beruhige dich. Alles ist gut.»
Patty saß mit gefrorenem Lächeln da und betrachtete die glanzvollen und plutokratischen Gesellschaften an den Nebentischen im charmant diskreten Licht des Restaurants. Natürlich lebte es sich nirgends auf der Welt besser als in New York. Diese Tatsache war das Fundament der Selbstzufriedenheit ihrer Familie, die Bühne, von der aus alles andere verspottet werden konnte, das Pfand einer Erwachsenenkultiviertheit, das ihnen das Recht verschaffte, sich wie Kinder zu benehmen. Patty zu sein und in jenem Restaurant in SoHo zu sitzen hieß, einer Kraft entgegenzutreten, mit der zu konkurrieren völlig aussichtslos war. Ihre Familie hatte New York für sich reklamiert und würde keinen Millimeter weichen. Einfach nie wieder herzukommen — zu vergessen, dass es solche Restaurantszenen überhaupt gab — war ihre einzige Option.
«Du bist wohl kein Weintrinker», sagte Ray zu Walter.
«Wenn ich wollte, könnte ich sicher einer werden», sagte Walter.
«Das hier ist ein sehr guter Amarone, wenn du mal einen Schluck probieren möchtest.»
«Nein, danke.»
«Sicher?» Ray schwenkte die Flasche in Walters Richtung.
«Ja, er ist sich sicher!», rief Patty. «Das sagt er ja jetzt auch erst seit vier Abenden immer wieder! Hallo? Ray? Nicht alle Menschen möchten betrunken, abstoßend und unhöflich sein. Es gibt auch welche, die lieber eine ernsthafte Unterhaltung führen, als zwei Stunden lang Sexwitze zu machen.»
Ray grinste, als hätte sie das im Scherz gesagt. Joyce klappte ihre Lesebrille auseinander, um in die Dessertkarte zu schauen, Walter wurde rot, und Abigail sagte, mit einer spastischen Halsverrenkung und säuerlichem Blick: «? ? Nennen wir ihn jetzt ?»
Am nächsten Morgen sagte Joyce mit zittriger Stimme zu Patty: «Walter ist so viel — ich weiß nicht, ob konservativer das richtige Wort ist, vielleicht trifft es konservativ nicht ganz, obwohl, na ja, von seinem Demokratieverständnis her, Stichwort , Stichwort , also, nicht direkt autokratisch, aber auf gewisse Weise, doch, ja, irgendwie schon — konservativer, als ich erwartet hatte.»
Zwei Monate später, anlässlich von Pattys Examen, sagte Ray mit schlecht unterdrücktem Glucksen zu ihr: «Bei der Chose mit dem Wachstum ist Walter so rot im Gesicht geworden, du meine Güte, ich dachte schon, er kriegt gleich einen Herzinfarkt.»
Und weitere sechs Monate danach, bei dem einzigen Thanksgiving, das Patty und Walter töricht genug waren, in Westchester zu feiern, sagte Abigail: «Wie läuft's denn so mit dem Club of Rome? Seid ihr dem Club of Rome schon beigetreten? Hat man euch seine Erkennungswörter verraten? Habt ihr in seinen Ledersesseln gesessen?»
Schluchzend sagte Patty auf dem Flughafen LaGuardia zu Walter: «Ich hasse meine Familie!»
Und Walter antwortete mannhaft: «Wir gründen unsere eigene!»
Armer Walter. Zuerst hatte er aus dem Gefühl heraus, seinen Eltern finanziell verpflichtet zu sein, seine Schauspieler- und Filmemacherträume an den Nagel gehängt, und kaum hatte sein Vater ihn in die Freiheit entlassen, indem er starb, tat Walter sich mit Patty zusammen und hängte im Tausch gegen eine Anstellung bei 3M seine Weltrettungsambitionen an den Nagel, damit Patty ihr fabelhaftes altes Haus bekommen und daheim bei den Kindern bleiben konnte. Das Ganze geschah fast ohne Diskussion. Er begeisterte sich für die Pläne, die sie begeisterten, er stürzte sich auf die Renovierung des Hauses und die Aufgabe, sie gegen ihre Familie zu verteidigen. Erst Jahre später — nachdem Patty begonnen hatte, ihn zu enttäuschen — wurde er den anderen Emersons gegenüber nachsichtiger und betonte immer wieder, die Glückliche sei doch sie, die Einzige, die den Schiffbruch überlebt habe und davon erzählen könne. Er fand, man müsse Abigail, die auf einer äußerst kargen Insel (Manhattan Island!) gestrandet sei und dort nach emotionaler Nahrung stöbere, verzeihen, wenn sie Gespräche an sich reiße, schließlich versuche sie doch nur, irgendwie satt zu werden. Er fand, Patty solle Mitleid mit ihren Geschwistern haben, anstatt sie zu verurteilen, weil sie nicht die Kraft oder das Glück gehabt hätten, sich zu lösen: weil sie so hungrig seien. Aber zu alldem kam es erst viel später. In den ersten Jahren war er derart für Patty entflammt, dass sie nichts falsch machen konnte. Und sehr schöne Jahre waren das.
Walters eigenes Konkurrenzverhalten war nicht auf die Familie ausgerichtet. Auf diesem Feld hatte er, als sie ihn kennenlernte, bereits gewonnen. Beim Pokern um die Berglund'schen Pfründe waren alle Asse an ihn ausgeteilt worden, abgesehen vielleicht von dem des guten Aussehens und der Leichtigkeit im Umgang mit Frauen. (Dieses spezielle Ass hatte sein älterer Bruder — der gegenwärtig bei seiner dritten jungen Ehefrau angelangt ist, die ihn hart arbeitend ernährt — bekommen.) Walter wusste nicht nur über den Club of Rome Bescheid, las anspruchsvolle Romane und konnte etwas mit Igor Strawinsky anfangen, er war auch in der Lage, eine Kupferrohrverbindung zu schweißen und Tischlerarbeiten auszuführen und Vögel an ihrem Gesang zu erkennen und sich um eine schwierige Frau zu kümmern. Er war so sehr der Gewinner seiner Familie, dass er es sich leisten konnte, regelmäßig zurückzukehren, um den anderen zu helfen.
«Jetzt wirst du dir tatsächlich wohl man ansehen müssen, wo ich aufgewachsen bin», hatte er draußen vor dem Hibbinger Busbahnhof zu Patty gesagt, nachdem sie ihre Autotour mit Richard abgebrochen hatte. Sie saßen in Gene Berglunds Crown Victoria, dessen Scheiben von ihrem heißen, heftigen Geatme ganz beschlagen waren.
«Ich möchte dein Zimmer sehen», sagte Patty. «Ich möchte alles sehen. Ich finde, du bist so ein wunderbarer Mensch!»
Als er das hörte, musste er sie erst noch eine ganze Weile weiterküssen, bevor er seinen Sorgefaden wiederaufnahm. «Wie dem auch sei», sagte er, «es ist mir trotzdem peinlich, dir mein Zuhause zu zeigen.»
«Das muss dir nicht peinlich sein. Du solltest mal meins sehen. Die reinste Monstrositätenschau.»
«Tja, also, hier ist es nicht annähernd so interessant. Hier herrscht bloß das ganz normale Elend der Iron Range.»
«Dann lass uns jetzt hinfahren. Ich möchte es sehen. Ich möchte mit dir schlafen.»
«Das klingt herrlich», sagte er, «aber ich glaube, es wäre meiner Mutter nicht so recht.»
«Ich möchte in deiner Nähe schlafen. Und dann mit dir zusammen frühstücken.»
«Das lässt sich arrangieren.»
In Wahrheit war das, was sie im Whispering Pines vorfand, ernüchternd für Patty und löste einen Moment des Zweifels daran aus, was sie durch ihr Erscheinen in Hibbing angerichtet hatte; es erschütterte die Seelenruhe, in der sie hergekommen war, um sich in die Arme eines Mannes zu werfen, der körperlich nicht den gleichen Reiz auf sie ausübte wie sein bester Freund. Das Motel sah von außen einigermaßen annehmbar aus, und davor parkte eine gar nicht so deprimierende Anzahl von Autos, aber die Wohnräume hinter dem Büro waren von Westchester in der Tat sehr weit entfernt. Sie warfen ein Licht auf ein ganzes vorher unsichtbares Privilegienuniversum, ihr eigenes privilegiertes Vorstadtleben; sie verspürte einen unerwarteten, schmerzhaften Anflug von Heimweh. Die Böden waren mit schwammig wirkender Teppichware ausgelegt und fielen zum Bach hinter dem Haus hin merklich ab. Im Wohn-Essraum stand ein radkappengroßer, aufwendig krenelierter Keramikaschenbecher in Reichweite des Sofas, auf dem Gene Berglund seine Angel- und Jagdzeitschriften gelesen und an Fernsehprogrammen geschaut hatte, was die Antenne des Motels (sie war, wie Patty am nächsten Morgen entdeckt hatte, auf eine geköpfte Kiefer hinter dem Sickerfeld montiert) den Sendern der Twin Cities und Duluths entlocken konnte. Walters kleines Zimmer, das er mit seinem jüngeren Bruder geteilt hatte, lag am unteren Ende der schiefen Ebene und war wegen der Bachwasserverdunstung ständig feucht. Auf dem Teppichboden verlief, mitten durch den Raum, ein gummiartiger Streifen aus den Resten des Klebebands, das Walter als Kind dort angebracht hatte, um seinen Bereich abzugrenzen. An der hinteren Wand reihten sich noch Relikte seiner strebsamen Kindheit: Pfadfinderhandbücher und — auszeichnungen, eine vollständige Sammlung gekürzter Präsidentenbiographien, ein paar Bände der World Book Encyclopedia, kleine Tierskelette, ein leeres Aquarium, Briefmarken- und Münzsammlungen, ein professionelles Thermo-/Barometer mit Drähten, die durch ein Fenster nach draußen führten. An der verzogenen Zimmertür hing ein vergilbtes, selbst gefertigtes «Rauchen verboten»-Schild, mit rotem Stift geschrieben, das R etwas wackelig, aber hochaufragend in seinem Trotz.
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