Also schluckte sie die bittere Pille und rief, per R-Gespräch, ihre Eltern an.
«Chicago!», sagte Joyce. «Nicht zu fassen. Bist du in der Nähe eines Flughafens? Kannst du einen Flieger nehmen? Wir hatten dich längst erwartet. Daddy möchte möglichst früh losfahren, wegen des ganzen Wochenendverkehrs.»
«Ich habe Mist gebaut», sagte Patty. «Es tut mir leid.»
«Kannst du denn bis morgen früh hier sein? Das Festessen ist ja erst morgen Abend.»
«Ich gebe mir große Mühe», sagte Patty.
Joyce saß seit mittlerweile drei Jahren in der Parlamentskammer. Hätte sie Patty nicht als Nächstes alle Verwandten und Freunde der Familie aufgezählt, die sich zu dieser bedeutsamen Würdigung einer Ehe am Mohonk versammeln würden, und von der ungeheuren Vorfreude gesprochen, mit der Pattys drei Geschwister dem Wochenende entgegenfieberten, und betont, wie zutiefst geehrt sie (Joyce) sich angesichts der Zuneigung fühle, mit der sie buchstäblich aus allen vier Himmelsrichtungen des Landes überschüttet würden — vielleicht hätte Patty dann alles Nötige getan, um zum Mohonk zu gelangen. Aber so, wie die Dinge lagen, breitete sich, während sie ihrer Mutter zuhörte, eine eigentümliche Ruhe und Gewissheit in ihr aus. Ein leichter Regen fiel auf Chicago; der Wind, der die Stoffvorhänge bewegte, trug angenehme Gerüche nach abgekühltem Asphalt und Michigansee zu ihr herein. Ungewohnt nachsichtig, mit einem neuen, gelassenen Blick, sah Patty in sich hinein und erkannte, dass niemandem Schaden oder gar besonderer Schmerz zugefügt werden würde, wenn sie zu der silbernen Hochzeit einfach nicht erschien. Das meiste war schon geschafft. Sie begriff, dass sie jetzt so gut wie frei war, und den letzten Schritt zu tun war zwar irgendwie grausam, aber auf keine schlimme Weise, falls das einen Sinn ergibt.
Sie saß an einem der Fenster, roch den Regen und beobachtete, wie der Wind das Unkraut und Gestrüpp auf dem Dach einer längst stillgelegten Fabrik nach unten drückte, als der Anruf von Richard kam.
«Tut mir sehr leid», sagte er. «In spätestens einer Stunde bin ich da.»
«Du brauchst dich nicht zu beeilen», sagte sie. «Es ist sowieso schon viel zu spät.»
«Aber dein Fest ist doch erst morgen Abend.»
«Nein, Richard, morgen Abend ist das Essen. Ich sollte heute da sein. Heute spätestens um fünf.»
«Scheiße. Ist das dein Ernst?»
«Wusstest du das wirklich nicht mehr?»
«Geht gerade alles ein bisschen durcheinander in meinem Kopf. Ich hab nicht allzu viel geschlafen.»
«Tja, na dann. Egal. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ich denke, ich fahre jetzt nach Hause.»
Und genau das tat sie. Stieß ihren Koffer die Treppe hinunter und schwang sich auf ihren Krücken hinterher, winkte an der Halstead Street ein Schwarztaxi herbei und nahm einen Greyhoundbus nach Minneapolis und einen weiteren nach Hibbing, wo Gene Berglund in einem evangelischen Krankenhaus im Sterben lag. Auf den leeren nachmitternächtlichen Innenstadtstraßen waren es ungefähr fünf Grad, und es goss in Strömen. Walters Wangen waren rosiger denn je. Draußen vor dem Busbahnhof, in der nach Zigaretten stinkenden Spritschleuder seines Vaters, schlang Patty die Arme um seinen Hals und wagte den Sprung herauszufinden, wie er küsste, und war mehr als zufrieden, denn er machte es wirklich nett.
Kapitel 3: Freie Märkte fördern die Konkurrenz
Für den Fall, dass sich in Bezug auf Pattys Eltern ein Ton der Beschwerde oder gar des Vorwurfs in diese Seiten geschlichen haben sollte, bekennt sich die Autobiographin hier zu ihrer tiefen Dankbarkeit gegenüber Joyce und Ray für zumindest eines, nämlich dafür, dass sie sie, anders als ihre Schwestern, nie zur Kreativität in Kunstdingen angehalten haben. Die Vernachlässigung durch Joyce und Ray, so sehr sie geschmerzt hat, als Patty jünger war, erscheint nachgerade segensreich, wenn sie sich ihre Schwestern anschaut, die inzwischen Anfang vierzig sind und, zu exzentrisch und/oder anspruchsvoll, um langfristige Beziehungen aufrechtzuerhalten, als Singles in New York leben und sich finanziell immer noch von den Eltern dabei unterstützen lassen, dass sie um einen künstlerischen Erfolg ringen, der ihnen stets als ihre ureigene Bestimmung hingestellt worden ist. Letztlich hat es sich doch als besser erwiesen, für dumm und dämlich anstatt für brillant und außergewöhnlich angesehen zu werden. Denn so geht es als positive Überraschung durch, dass Patty auch nur ein kleines bisschen Kreativität beweist, und nicht als Peinlichkeit, dass es zu mehr Kreativität nicht gereicht hat.
Ein großartiger Zug an dem jungen Walter war sein unbedingter Wunsch, Patty gewinnen zu sehen. Während Elizas Parteinahme für sie nur so dahingetröpfelt war und sie nie zufriedengestellt hatte, verabreichte Walter ihr wahre Infusionen an Feindseligkeit gegenüber jedem (ihren Eltern, ihren Geschwistern), der dazu beitrug, dass sie sich schlecht fühlte. Und da er in anderen Lebensbereichen intellektuell so aufrichtig war, genoss er allergrößte Glaubwürdigkeit, wenn er ihre Familie kritisierte und Pattys zweifelhafte Methoden, mit ihnen in Konkurrenz zu treten, unterstützte. Vielleicht entsprach er nicht genau dem, was sie sich von einem Mann wünschte, aber darin, ihr die fanatische Anhängerschaft zu bieten, die sie damals noch mehr brauchte als Romantik, war er unübertrefflich.
Im Rückblick drängt es sich geradezu auf, dass Patty gut beraten gewesen wäre, sich noch ein paar Jahre Zeit herauszunehmen, um sich eine berufliche Zukunft und eine solidere Identität für das Leben nach dem Sport aufzubauen, ein paar Erfahrungen mit andersgearteten Männern zu sammeln und ganz allgemein mehr Reife zu erlangen, bevor sie sich daran machte, Mutter zu werden. Doch obwohl sie keine College-Basketballspielerin mehr war, hatte sie immer noch eine Wurfuhr im Kopf, lebte sie immer noch unter dem Bann des Schlusspfiffs, war es für sie unverzichtbarer denn je zu gewinnen. Und der sicherste Weg dorthin — die Taktik, die die besten Chancen auf einen Sieg über ihre Schwestern und ihre Mutter verhieß — war der, den nettesten Mann in Minnesota zu heiraten, in einem größeren, schöneren und interessanteren Haus zu wohnen als irgendwer sonst in der Familie, möglichst schnell Kinder zu bekommen und als Mutter all das zu tun, was Joyce zu tun versäumt hatte. Und Walter, der zwar bekennender Feminist war und seine Studentenmitgliedschaft in der Organisation Zero Population Growth Jahr für Jahr erneuerte, akzeptierte ihr ganzes Heim- und Herdprogramm vorbehaltlos, weil Patty eben genau dem entsprach, was er sich von einer Frau wünschte.
Sie heirateten drei Wochen nach Pattys Examen — fast auf den Tag genau ein Jahr nachdem sie den Bus nach Hibbing genommen hatte. Walters Mutter Dorothy oblag es, auf ihre sanfte und zaghafte und doch recht unbeugsame Art die Stirn zu runzeln und Bedenken zu äußern, als Patty sich entschlossen zeigte, auf dem Standesamt des Hennepin County zu heiraten, anstatt ihre Eltern ein Hochzeitsfest in Westchester ausrichten zu lassen, wie es sich gehört hätte. Wäre es denn nicht besser, fragte Dorothy sanft, die Emersons einzubeziehen? Sie wisse ja, dass Patty ihrer Familie nicht allzu nahe stehe, aber trotzdem, würde sie es nicht vielleicht später bereuen, sie von einem so bedeutenden Ereignis ausgeschlossen zu haben? Patty versuchte, Dorothy auszumalen, was eine Westchester-Hochzeit bedeuten würde: auf der Gästeliste die ungefähr zweihundert engsten Freunde ihrer Eltern und potentesten Wahlkampfsponsoren von Joyce; Druck von Joyce, damit Patty ihre mittlere Schwester zur Trauzeugin erkor und ihre andere Schwester während der Zeremonie einen Ausdruckstanz darbieten ließ; ungebremster Champagnerkonsum, bis Ray irgendwann in Hörweite ihrer Basketballfreundinnen einen Witz über Lesben vom Stapel lassen würde. Dorothys Augen wurden ein wenig feucht, vielleicht aus Mitleid mit Patty oder auch aus Traurigkeit über die Gefühlskälte und Strenge, die Patty an den Tag legte, sobald die Rede auf ihre Familie kam. Wäre es denn nicht möglich, fragte sie sanft weiter, auf einer Feier in kleinem Kreis zu bestehen, bei der alles genau so sei, wie Patty es sich wünsche?
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