Zuerst wollte Richard nicht über ihn sprechen, aber als sie ihn schließlich so weit hatte, erfuhr sie eine ganze Menge über Walters Collegejahre. Über die Symposien, die er organisiert hatte — zum Thema Überbevölkerung, zum Thema Reform des Wahlmänner-Gremiums — und zu denen so gut wie keine Studenten erschienen waren. Über die wegweisende New-Wave-Musiksendung, die er vier Jahre lang im Campusradio moderiert hatte. Über seine Unterschriftenaktion für besser isolierte Fenster in den Studentenwohnheimen des Macalester. Über seine Leitartikel für die Collegezeitung bezüglich der Essenstabletts zum Beispiel, mit denen er es, während er am Geschirrförderband jobbte, zu tun bekam: dass er ausgerechnet hatte, wie viele Familien in St. Paul von den Resten eines einzigen Abends ernährt werden könnten, und seinen Kommilitonen zu Bewusstsein bringen wollte, dass sie anderen Menschen Arbeit machten, wenn sie ihre Erdnussbutter überallhin schmierten, und sich philosophisch mit der Angewohnheit seiner Kommilitonen auseinandersetzte, dreimal so viel Milch wie nötig über ihre Cornflakes zu gießen und dann randvolle Schüsseln nicht mehr brauchbarer Milch auf ihren Tabletts stehen zu lassen — glaubten sie denn, Milch sei ein kostenloses und unerschöpfliches Gut wie Wasser und habe, ökologisch betrachtet, nicht den geringsten Pferdefuß? Richard erzählte all dies in dem gleichen Beschützerton, den er Patty gegenüber schon zwei Wochen zuvor angeschlagen hatte, einem Ton eigenartig zärtlichen Bedauerns Walters wegen, so, als spürte er selbst den Schmerz, den Walter sich zuzog, indem er sich die Hörner an harten Realitäten wund stieß.
«Hatte er Freundinnen?», fragte Patty.
«Er hat sich immer in die Falschen verliebt», sagte Richard. «Die Unerreichbaren. Die schon einen Freund hatten. Die künstlerisch Veranlagten, die in anderen Kreisen verkehrten. Es gab da eine Studentin im zweiten Studienjahr, über die er die ganze letzte Zeit am College nicht hinweggekommen ist. Er hat ihr seinen Freitagabend-Sendeplatz im Radio abgetreten und dafür einen Dienstagnachmittag genommen. Ich hab's zu spät mitgekriegt, um es zu verhindern. Er hat ihre Referate umgeschrieben, sie in Konzerte geschleppt. Es war grässlich mitanzusehen, wie sie mit ihm umgesprungen ist. Sie tauchte immer zur Unzeit bei uns im Zimmer auf.»
«Komisch», sagte Patty. «Woran das wohl lag.»
«Er hört nie auf meine Warnungen. Kann ein fürchterlicher Sturkopf sein. Und was man nicht unbedingt bei ihm vermuten würde: Aussehen ist ihm wichtig. Hübsches Gesicht, gute Figur. Da entwickelt er richtigen Ehrgeiz. Was ihm auf dem College keine glücklichen Zeiten beschert hat.»
«Und diese Studentin, die andauernd bei euch im Zimmer aufgetaucht ist, wie fandst du die?»
«Ich fand's nicht gut, wie sie mit Walter umging.»
«Das ist irgendwie ein Tick von dir, oder?»
«Sie hatte einen beschissenen Geschmack und einen Freitagabend-Sendeplatz. Irgendwann gab es nur noch einen Weg, ihm klarzumachen, mit was für einer Tusse er sich da abgab.»
«Ach so, du hast ihm also einen Gefallen getan. Klar.»
«Die Welt ist voller Moralisten.»
«Nein, im Ernst, ich verstehe schon, warum du uns nicht respektieren kannst. Wenn du Jahr für Jahr für Jahr immer wieder Mädchen kennenlernst, die wollen, dass du deinen besten Freund betrügst. Das bringt dich natürlich in eine seltsame Lage.»
«Dich respektiere ich», sagte Richard.
«Hahaha.»
«Du hast was im Kopf. Ich hätte nichts dagegen, wenn wir uns im Sommer wiedersehen würden, falls du Lust hast, es mal mit New York zu versuchen.»
«Das erscheint mir nicht sehr praktikabel.»
«Ich sage ja auch nur, es wäre schön.»
Sie hatte ungefähr drei Stunden, um sich dieser Phantasie hinzugeben — auf die Rücklichter der Autos starrend, die in einem fort der großen Metropole entgegenrasten, fragte sie sich, wie es wohl wäre, Richards Tusse zu sein, fragte sich, ob es einer Frau, die er respektierte, vielleicht gelingen würde, ihn zu ändern, stellte sich vor, nie wieder nach Minnesota zurückzukehren, versuchte die Wohnung vor sich zu sehen, die sie vielleicht für sich finden würden, genoss den Gedanken, Richard auf ihre geringschätzige mittlere Schwester loszulassen, malte sich die Fassungslosigkeit ihrer Familie aus, wenn sie sähe, wie cool sie geworden war, stellte sich ihr nächtliches Radiertwerden vor — , ehe sie in der Wirklichkeit von Chicagos South Side ankamen. Es war zwei Uhr morgens, und Richard konnte das Wohnhaus von Herreras Freunden nicht finden. Immer wieder versperrten ihnen Rangiergleise und ein dunkler, geisterhafter Fluss den Weg. Die Straßen waren verwaist, abgesehen von Schwarztaxis und dem einen oder anderen furchteinflößenden farbigen Jugendlichen, über die man in der Zeitung las.
«Eine Karte wäre vielleicht hilfreich gewesen», sagte Patty.
«Es ist eine Nummernstraße. Dürfte nicht so schwierig sein.»
Herreras Freunde waren Künstler. Das Gebäude, in dem sie wohnten und das Richard schließlich mit der Hilfe eines Taxifahrers ausfindig machte, sah aus, als stünde es leer. Es gab eine Klingel, die an zwei Drähten baumelte und erstaunlicherweise funktionierte. Irgendjemand schob hinter einem der Fenster ein Stück Stoff beiseite und kam dann herunter, um sich bei Richard zu beschweren.
«Tut mir leid, Mann», sagte Richard. «Wir sind aufgehalten worden, war nicht zu ändern. Wir müssen hier bloß für ein paar Nächte pennen.»
Der Künstler trug billige, schlabberige Unterhosen. «Wir haben heute angefangen, das Zimmer zu isolieren», sagte er. «Es ist ziemlich feucht. Herrera hatte doch irgendwas vom Wochenende gesagt?»
«Hat er euch nicht gestern angerufen?»
«Doch. Ich hab ihm klargemacht, dass das freie Zimmer im Moment ein totaler Saustall ist.»
«Kein Problem. Wir sind für alles dankbar. Ich muss noch Zeug aus dem Auto holen.»
Da Patty nicht in der Lage war, irgendetwas zu tragen, bewachte sie das Auto, während Richard es nach und nach ausräumte. In dem Zimmer, das man ihnen zur Verfügung stellte, roch es durchdringend nach etwas, das sie, jung, wie sie war, weder als Trockenbauspachtel identifizieren noch anheimelnd und tröstlich finden konnte. Licht kam nur von einer grellen Aluminiumleuchte, die an einer mit Spachtelmasse bekleckerten Leiter klemmte.
«Mannomann», sagte Richard. «Lassen die den Trockenbau hier von Schimpansen machen, oder was?»
Unter einem staubigen, ebenfalls mit Spachtelmasse gesprenkelten Haufen Abdeckplanen lag eine nackte, rostfleckige Doppelbettmatratze.
«Entspricht nicht ganz deinen gewohnten Sheraton-Maßstäben, nehm ich mal an», sagte Richard.
«Gibt es auch Bettzeug?», sagte Patty zaghaft.
Er stöberte im Gemeinschaftsraum der Wohnung herum und kam mit einer Wolldecke, einem indischen Bettüberwurf und einem Samtkissen zurück. «Du schläfst hier», sagte er. «Drüben ist eine Couch, die kann ich nehmen.»
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu.
«Es ist spät», sagte er. «Du musst schlafen.»
«Bist du sicher? Hier ist Platz genug. Eine Couch ist doch bestimmt zu kurz für dich.»
Sie konnte kaum noch aus den Augen gucken, aber sie wollte ihn und hatte auch die nötige Ausrüstung dabei, und ihr Instinkt sagte ihr, dass sie es besser gleich über die Bühne brachte, damit es ein für alle Mal in den Büchern stand, bevor sie Zeit haben würde, zu viel darüber nachzudenken und es sich anders zu überlegen. Und es sollte Jahre, ja fast ein halbes Leben dauern, bis sie den Grund erfuhr, den ziemlich verwirrenden Grund, warum Richard sich in jener Nacht plötzlich wie ein Gentleman verhielt. Damals, auf der spachtelfeuchten Baustelle, konnte sie nur annehmen, dass sie sich irgendwie in ihm getäuscht oder ihm die Lust ausgetrieben hatte, weil sie ihm so auf den Wecker gefallen und beim Tragen seines Zeugs nicht zu gebrauchen gewesen war.
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