Patty wurde ganz still.
«Das wusste ich tatsächlich nicht alles», sagte sie nach einer Weile. «Nicht so genau. Aber wenn du ein Problem damit hast, dass jemand mit dir flirtet, solltest du nicht mit Walter befreundet sein.»
«Ach so. Es ist meine Schuld. Verstehe.»
«Na ja, tut mir leid, aber irgendwie schon.»
«Mein Plädoyer ist abgeschlossen», sagte Richard. «Du musst erst mal Ordnung in deinem Kopf schaffen.»
«Das weiß ich selbst», sagte Patty. «Aber ein Arsch bist du trotzdem.»
«Pass auf, ich nehme dich mit nach New York, wenn es das ist, was du willst. Zwei Ärsche unterwegs. Könnte lustig werden. Aber wenn du das wirklich willst, dann tu mir einen Gefallen und hör auf, Walter zappeln zu lassen.»
«Gut. Bitte bring mich jetzt nach Hause.»
Vielleicht war das Nikotin daran schuld, dass sie die ganze Nacht wach lag und den Abend in Gedanken immer wieder durchspielte, um Ordnung in ihrem Kopf zu schaffen, wie Richard es von ihr gefordert hatte. Aber es war ein sonderbares geistiges Kabuki, denn bei allem permanenten Kreisen um die Frage, was für ein Mensch sie war und wie ihr Leben einmal aussehen würde, stand doch eines in ihrem Innersten unabänderlich fest: Sie wollte diese Autotour mit Richard machen, mehr noch, sie würde sie machen. Die traurige Wahrheit war die, dass ihr Gespräch im Auto ungemein aufregend und erleichternd für sie gewesen war — aufregend, weil sie Richard so aufregend fand, und erleichternd, weil sie sich, nachdem sie monatelang jemand zu sein versucht hatte, der sie nicht oder zumindest nicht gänzlich war, endlich gefühlt und auch geklungen hatte wie sie selbst, ohne alle Verstellung. Und deshalb wusste sie, dass sie eine Möglichkeit finden würde, mit ihm mitzufahren. Sie musste nur noch ihr schlechtes Gewissen gegenüber Walter und ihren Kummer bezwingen, dass sie nicht der Mensch war, den sie beide so gern in ihr gesehen hätten. Wie richtig er damit gelegen hatte, es langsam mit ihr angehen zu lassen! Wie gut er über ihren zweifelhaften Charakter im Bilde war! Wenn sie bedachte, wie richtig und gut er sie einschätzte, wurden ihr Bedauern und ihr schlechtes Gewissen, ihn enttäuschen zu müssen, nur umso größer, und schon drehte sie weitere Runden auf dem Karussell der Unentschlossenheit.
Und dann hörte sie fast eine Woche lang nichts von ihm. Sie vermutete, dass er auf Richards Rat hin Abstand wahrte — dass Richard ihm einen frauenfeindlichen Vortrag über weibliche Untreue und die Notwendigkeit, seine Gefühle besser zu schützen, gehalten hatte. In ihrer Vorstellung war das ein großer Freundschaftsdienst und zugleich eine Gemeinheit von Richard, weil es für Walter schrecklich desillusionierend gewesen sein musste. Sie konnte nicht aufhören, daran zu denken, wie er große Pflanzen in Bussen für sie transportiert hatte, an seine weihnachtssternroten Wangen. Sie dachte an die Abende im Aufenthaltsraum ihres Wohnheims zurück, an denen er der Flurschlaftablette Suzanne Storrs ins Netz gegangen war, die ihre Haare seitlich, knapp oberhalb eines Ohrs, scheitelte und quer über den Kopf kämmte, und geduldig ihrem monotonen, sauertöpfischen Geschwafel über das Abnehmen und die Härten der Inflation und ihr überheiztes Wohnheimzimmer und ihre allumfassende Unzufriedenheit mit der Verwaltung und dem Lehrkörper der Universität zugehört hatte, während Patty, Cathy und ihre anderen Freundinnen sich bei Fantasy Island bestens amüsierten: wie Patty sich, wegen ihres Knies angeblich außer Gefecht gesetzt, geweigert hatte, aufzustehen und ihn von Suzanne zu erlösen, weil sie fürchtete, dass Suzanne dann alle anderen mit ihrer Langweiligkeit behelligen würde, und wie Walter, der durchaus imstande gewesen war, sich zusammen mit Patty über Suzanne lustig zu machen, und ganz bestimmt daran dachte, was er noch alles zu tun hatte und dass er am nächsten Morgen früh aufstehen musste, sich trotzdem an anderen Abenden erneut von ihr in die Falle locken ließ, weil Suzanne einen Narren an ihm gefressen hatte und sie ihm leidtat.
Es genügt wohl zu sagen, dass Patty sich nicht recht dazu aufraffen konnte, Nägel mit Köpfen zu machen. Sie sprachen erst wieder miteinander, als Walter sie aus Hibbing anrief, um sich für sein Schweigen zu entschuldigen und ihr mitzuteilen, dass sein Vater im Koma lag.
«Ach, Walter, du fehlst mir!», rief sie aus, dabei war das nun genau so ein Satz, den nicht zu sagen Richard sie beschworen hätte. «Du fehlst mir auch!»
Sie besann sich darauf, ihn genauer nach dem Zustand seines Vaters zu fragen, obwohl es nur dann sinnvoll war, eine gute Fragenstellerin zu sein, wenn sie die Absicht hatte, bei ihm am Ball zu bleiben. Walter erzählte von Leberversagen, Lungenödemen, einer beschissenen Prognose.
«Das tut mir so leid», sagte sie. «Aber hör mal. Was das Zimmer angeht — »
«Ach, du brauchst dich nicht jetzt zu entscheiden.»
«Nein, aber du brauchst eine Antwort. Wenn du es an jemand anderen vermieten willst — »
«Lieber würde ich es an dich vermieten!»
«Na gut, und vielleicht nehme ich es ja auch, aber ich muss nächste Woche nach Hause und überlege, bei Richard mitzufahren. Er will zur selben Zeit nach New York wie ich.»
Eventuelle Zweifel, dass Walter womöglich nicht begreifen würde, worum es hier ging, wurden von seinem plötzlichen Schweigen zerstreut.
«Hast du nicht schon ein Flugticket?», sagte er dann.
«Es ist eins von der Sorte, die man voll zurückerstattet bekommt», log sie.
«Das ist gut», sagte er. «Aber, weißt du, Richard ist nicht besonders zuverlässig.»
«Schon klar», sagte sie. «Du hast ja recht. Ich dachte nur, ich könnte ein bisschen Geld sparen und es dann in die Miete stecken.» (Eine Verschlimmerung der Lüge. Das Ticket hatten ihre Eltern gekauft.) «Egal, was passiert, ich zahle auf jeden Fall die Miete für Juni.»
«Das ist doch unsinnig, wenn du da gar nicht einziehst.»
«Ach, wahrscheinlich tue ich das ja. Ich bin mir nur noch nicht ganz sicher.»
«Ah.»
«Ich möchte schon, ich bin mir nur nicht ganz sicher. Also, wenn du einen anderen Mieter findest, solltest du ihn wahrscheinlich nehmen. Aber ich zahle auf jeden Fall für Juni.»
Walter schwieg erneut, bevor er, offenkundig mutlos geworden, sagte, er müsse jetzt auflegen.
Davon angespornt, dass sie dieses schwierige Gespräch über die Bühne gebracht hatte, rief sie Richard an und versicherte ihm, sie habe das Nägel-mit-Köpfen-Machen erledigt, woraufhin Richard sagte, dass sein Abfahrtstermin noch nicht ganz feststehe und es da außerdem ein paar Konzerte in Chicago gebe, die er auf der Durchreise gern mitnehmen würde.
«Solange ich spätestens nächsten Samstag in New York bin», sagte Patty.
«Stimmt, die Silberhochzeit. Wo findet die statt?»
«Im Mohonk Mountain House, aber ich muss nur irgendwie nach Westchester kommen.»
«Mal sehen, was sich machen lässt.»
Eine längere Autotour mit einem Mann am Steuer zu unternehmen, dem man, wie vielleicht alle Frauen, auf den Wecker fällt, ist nicht so lustig, aber das begriff Patty erst, nachdem sie es ausprobiert hatte. Die Probleme begannen mit dem Abfahrtstermin, der ihretwegen vorverlegt werden musste. Dann gab es eine Verzögerung, weil irgendetwas an Herreras Bus kaputt war, und da Richard in Chigaco bei Freunden von Herrera übernachten wollte und Patty dabei gar nicht eingeplant war, versprach es auch an dieser Front Unannehmlichkeiten zu geben. Patty war im Übrigen nicht besonders gut darin, Entfernungen zu berechnen, und als Richard sie mit drei Stunden Verspätung abholte und sie erst am frühen Abend in Minneapolis aufbrachen, machte sie sich nicht klar, wie spät sie in Chicago ankommen würden und wie wichtig es deshalb war, auf der I-94 Strecke zu machen. Es war ja nicht ihre Schuld, dass sie so spät losgefahren waren. Sie fand es nicht übertrieben, ihn in der Nähe von Eau Claire zu bitten, kurz anzuhalten, damit sie aufs Klo gehen könne, und eine Stunde später, in der Nähe von gar nichts, zu verkünden, sie würde gern etwas essen. Dies war ihre Autotour, und sie hatte die Absicht, sie zu genießen! Aber die Rückbank war voller Ausrüstung, die Richard nicht aus den Augen zu lassen wagte, und seine eigenen elementaren Bedürfnisse waren durch seinen Kautabak hinlänglich befriedigt (er hatte einen großen Spucknapf vor sich auf dem Boden stehen), und obgleich er sich nicht ausdrücklich beklagte, wie sehr ihre Krücken alles, was sie tat, verlangsamten und erschwerten, sagte er Patty auch nicht, dass das schon in Ordnung sei und sie sich ruhig Zeit lassen solle. Und auf dem ganzen Weg durch Wisconsin, jede einzelne Minute davon, spürte sie, seiner Kurzangebundenheit und seines kaum verhohlenen Ärgers über ihre vollkommen nachvollziehbaren menschlichen Bedürfnisse zum Trotz, den beinahe physischen Druck, der von seinem Interesse am Vögeln herrührte, und auch das war der Stimmung im Auto nicht gerade zuträglich. Nicht, dass sie nicht stark von ihm angezogen gewesen wäre. Aber sie brauchte ein Mindestmaß an Zeit und Raum zum Atmen, und selbst unter Berücksichtigung ihrer damaligen Jugend und Unerfahrenheit ist es der Autobiographin peinlich zu berichten, dass sie sich diese Zeit und diesen Raum erkaufte, indem sie das Gespräch, widersinnig genug, auf Walter lenkte.
Читать дальше