«Mein erster Akt der Rebellion», sagte Walter.
«Wie alt warst du da?», sagte Patty.
«Keine Ahnung. Vielleicht zehn. Mein kleiner Bruder hatte schweres Asthma.»
Draußen regnete es jetzt stark. Dorothy schlief in ihrem Zimmer, aber Walter und Patty waren von ihrem Verlangen nacheinander immer noch ganz aufgekratzt. Er zeigte ihr die «Lounge», die sein Vater betrieben hatte, den imposanten ausgestopften Glasaugenbarsch an der Wand, die Birkenholzbar, bei deren Bau er seinem Vater zur Hand gegangen war. Noch vor kurzem, bis zu seiner Einweisung ins Krankenhaus, hatte Gene jeden Spätnachmittag rauchend und trinkend hinter dieser Bar gestanden und darauf gewartet, dass seine Freunde Feierabend hatten und Leben in die Bude brachten.
«Tja, also das hier bin ich», sagte Walter. «Hier komme ich her.»
«Ich finde es unglaublich schön, dass du hierherkommst.»
«Ich weiß zwar nicht genau, was du damit meinst, aber egal.»
«Einfach, dass ich dich sehr bewundere.»
«Das ist gut. Glaube ich.» Er ging zum Empfangstresen und betrachtete die Schlüssel. «Was hältst du von Zimmer 21?»
«Ist es ein schönes Zimmer?»
«Nicht viel anders als alle anderen.»
«Ich bin einundzwanzig Jahre alt. Also ist es perfekt.»
Im Zimmer 21 gab es lauter ausgeblichene und abgeschabte Flächen, die nie renoviert, sondern Jahrzehnten des energischen Scheuerns unterzogen worden waren. Die Bachfeuchtigkeit war spürbar, aber nicht überwältigend. Zwei Betten, niedrig und in Standardbreite, kein Doppelbett.
«Du musst nicht bleiben, wenn du es nicht willst», sagte Walter, als er ihre Tasche abstellte. «Ich kann dich morgen früh wieder zum Busbahnhof bringen.»
«Nein! Ist doch alles gut. Ich will hier ja nicht meinen Urlaub verbringen. Ich will bei dir sein und ein bisschen aushelfen.»
«Schön. Ich mache mir nur Sorgen, dass ich nicht das bin, was du dir wünschst.»
«Ach was, hör auf, dir Sorgen zu machen.»
«Ich mache mir aber trotzdem welche.»
Sie brachte ihn dazu, sich auf eins der Betten zu legen, und versuchte, ihn mit ihrem Körper zu beruhigen. Aber schon bald kochte seine Sorge wieder hoch. Er setzte sich auf und fragte sie, warum sie mit Richard mitgefahren sei. Eine Frage, die er, so hatte sie sich zu hoffen gestattet, nicht stellen würde.
«Ich weiß es nicht», sagte sie. «Wahrscheinlich wollte ich einfach mal ausprobieren, wie eine Autotour so ist.»
«Hm.»
«Es gab da etwas, das ich verstehen musste. Anders kann ich es nicht erklären. Ich musste etwas herausfinden. Und ich habe es herausgefunden; und jetzt bin ich hier.»
«Was hast du denn herausgefunden?»
«Wo ich sein will, und mit wem.»
«Das ging aber schnell.»
«Es war ein dummer Fehler», sagte sie. «Er hat so eine Art, einen anzusehen, das weißt du doch sicher. Dann dauert es eine Weile, bis man begreift, was man wirklich will. Bitte wirf mir das nicht vor.»
«Ich bin nur beeindruckt, dass es dir so schnell klargeworden ist.»
Sie verspürte den Impuls zu weinen und gab ihm nach, und Walter zeigte sich eine Weile von seiner besten Trösterseite.
«Er war nicht nett zu mir», sagte sie unter Tränen. «Und du bist das Gegenteil davon. Und das brauche ich im Augenblick so sehr. Kannst du bitte nett sein?»
«Kann ich», sagte er und streichelte ihren Kopf.
«Ich schwöre, dass du es nicht bereuen wirst.»
Das waren, wie die Autobiographin sich reumütig erinnert, exakt ihre Worte.
Und hier ist noch etwas, woran die Autobiographin sich lebhaft erinnert: die Heftigkeit, mit der Walter sie dann an den Schultern packte und auf den Rücken rollte und sich, über ihr aufragend, zwischen ihre Beine drängte, einen vollkommen fremden Ausdruck im Gesicht. Es war ein Ausdruck des Zorns, und er stand ihm gut. Es war, als ob sich plötzlich ein Vorhang teilt und etwas Schönes, Männliches enthüllt.
«Das hat nichts mit dir zu tun», sagte er. «Ist dir das klar? Ich liebe alles an dir. Jeden Zentimeter von dir. Jeden Zentimeter. Seit ich dich zum ersten Mal gesehen habe. Ist dir das klar?»
«Ja», sagte sie. «Ich meine, danke. Ich hatte das schon irgendwie gespürt, aber es tut wirklich gut, das zu hören.»
Er war allerdings noch nicht fertig.
«Verstehst du, ich habe ein… ein…» Er suchte nach Worten. «Ein Problem. Mit Richard. Ich habe da ein Problem.»
« Was für ein Problem?»
«Ich vertraue ihm nicht. Ich mag ihn sehr, aber ich vertraue ihm nicht.»
«O Gott», sagte Patty, «du solltest ihm aber auf jeden Fall vertrauen. Du bedeutest ihm doch schließlich auch viel. Er hat dir gegenüber einen ganz starken Beschützerinstinkt.»
«Nicht immer.»
«Also, in den Gesprächen mit mir schon. Weißt du nicht, wie sehr er dich bewundert?»
Walter starrte wütend auf sie herab. «Warum bist du dann mit ihm mitgefahren? Warum war er mit dir in Chicago? Warum, verdammte Scheiße? Ich verstehe das nicht!»
Als sie ihn verdammte Scheiße sagen hörte und sah, wie sehr ihn seine Wut zu erschrecken schien, fing sie wieder an zu weinen. «0 Gott, Walter, bitte», sagte sie, «ich bin doch hier. Ja? Ich bin deinetwegen hier! Und in Chicago ist nichts passiert. Rein gar nichts.»
Sie zog ihn näher zu sich heran, zog kräftig an seinen Hüften. Aber anstatt ihre Brüste anzufassen oder ihr die Jeans herunterzuzerren, wie Richard es bestimmt getan hätte, stand er auf und lief in Zimmer 21 auf und ab.
«Ich bin nicht sicher, ob das hier richtig ist», sagte er. «Ich bin nämlich nicht blöd, weißt du. Ich habe Augen und Ohren, ich bin nicht blöd. Ich weiß wirklich nicht, was ich jetzt machen soll.»
Es war eine Erleichterung zu hören, dass er Richard betreffend nicht blöd war; aber ihr wollte nun nichts mehr einfallen, womit sie ihn beruhigen konnte. Sie lag auf dem Bett und lauschte dem Regen auf dem Dach, sich darüber im Klaren, dass sich diese ganze Szene hätte vermeiden lassen, wenn sie nie in Richards Auto gestiegen wäre; dass sie irgendeine Strafe verdient hatte. Und dennoch fiel es schwer, sich nicht auszumalen, wie all dies besser hätte laufen können. Es war ein Vorgeschmack auf die nächtlichen Szenen späterer Jahre: wie Walters wunderschöne Wut einfach so verrauchte, während sie weinte und er sie bestrafte und sich dafür entschuldigte, dass er sie bestrafte, indem er sagte, sie seien beide hundemüde und es sei sehr spät, und das war es auch: so spät, dass es schon wieder früh war.
«Ich nehme jetzt ein Bad», sagte sie dann.
Er saß auf dem anderen Bett, die Ellbogen auf die Knie gestützt, und verbarg sein Gesicht in den Händen. «Entschuldige», sagte er. «Das hat wirklich nichts mit dir zu tun.»
«Also, weißt du was? So toll finde ich es nun auch wieder nicht, das andauernd zu hören.»
«Entschuldige. Ob du's glaubst oder nicht, ich meine damit etwas Nettes.»
«Und steht bei mir im Augenblick auch nicht allzu weit oben auf der Liste.»
Ohne die Hände vom Gesicht zu nehmen, fragte er sie, ob er ihr beim Baden behilflich sein könne.
«Geht schon», sagte sie, obwohl Baden eine ziemliche Herausforderung war, wenn man dabei ein geschientes und bandagiertes Knie hochlegen musste, damit es nicht nass wurde. Als sie eine halbe Stunde später im Pyjama wieder aus dem Badezimmer kam, schien Walter sich keinen Millimeter bewegt zu haben. Sie stand vor ihm und blickte auf seine hellen Locken und schmalen Schultern hinab. «Also, Walter», sagte sie. «Wenn du willst, kann ich morgen früh wieder abfahren. Aber jetzt muss ich schlafen. Und du solltest das auch tun.»
Er nickte.
«Es tut mir leid, dass ich mit Richard nach Chicago gefahren bin. Es war meine Idee, nicht seine. Du solltest mir Vorwürfe machen, nicht ihm. Aber im Moment sorgst du bloß dafür, dass ich mich irgendwie beschissen fühle.»
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