Sie drehte sich irritiert zu ihm um. «Kein Problem.»
«Er ist am Obersten Gerichtshof. Und der Autor von Roe gegen Wade.»
«Das weiß ich», sagte sie. «Meine Mutter hat quasi einen Schrein für ihn, in dem sie Weihrauch verbrennt. Du brauchst mir nicht zu erklären, wer Harry Blackmun ist.»
«Klar. Entschuldige.»
Zwischen ihnen wirbelte der Schnee.
«Na gut, dann lasse ich dich von jetzt an in Ruhe», sagte Walter. «Tut mir leid mit Eliza. Ich hoffe, es geht ihr bald besser.»
Die Autobiographin gibt niemand anderem als sich selbst — nicht Eliza, nicht Joyce und auch Walter nicht — die Schuld an dem, was als Nächstes geschah. Wie jeder andere Basketballer auch hatte sie etliche Fehlwurfserien durchlitten und ihren Anteil an suboptimalen Spielen gehabt, doch selbst an ihren schlechtesten Abenden hatte sie sich in etwas Größeres eingebunden gefühlt — das Team, die Fairness, die Idee, dass Sport zählt — , und die Anfeuerungsrufe ihrer Mannschaftskameradinnen und deren Pechsträhnen beendenden Halbzeitwitzeleien, all die Variationen über bleischwere Bälle und butterweiche Finger, diese tausendmal selbst gebrüllten Phrasen, waren ihr normalerweise ein echter Trost. Schon immer hatte sie um den Ball gekämpft, weil der Ball sie immer gerettet hatte, der Ball war das einzig Verlässliche in ihrem Leben, er war schon in den endlosen Sommern ihrer Kindheit ihr treuer Gefährte gewesen. Und all die ritualisierten Handlungen, wie sie in der Kirche ausgeübt werden und Nicht-Gläubigen als hohl oder falsch erscheinen — das Abklatschen auf Hüfthöhe nach jedem einzelnen Korb, das Einander-in-die-Arme-Fallen nach jedem versenkten Freiwurf, das Abklatschen auf Kopfhöhe für jede vom Platz kommende Spielerin, die endlose Schreierei von «Auf geht's, SHAWNA!» über «Gut gespielt, CATHY!» bis hin zu «WEITER SO, WEITER SO!» — , waren ihr so zur zweiten Natur geworden, ja ergaben in ihren Augen als notwendiger Antrieb zu hoher Leistung so viel Sinn, dass es ihr genauso wenig eingefallen wäre, sich dafür zu genieren, wie sie sich für die Tatsache genierte, dass sie vom Hin- und Herrennen auf dem Spielfeld stark schwitzte. Natürlich herrschte beim Frauensport nicht nur Friede, Freude, Eierkuchen. Unter der Oberfläche der Kameradschaftlichkeit schwärten Rivalitäten, moralische Werturteile und heftiger Unmut — Shawna warf Patty vor, Cathy zu oft und sie selbst zu selten mit schnellen Pässen zu versorgen; Patty kochte innerlich, wenn die begriffsstutzige Abbie Smith auf der Position des Reserve-Center erneut einen Ballbesitz in einen Schiedsrichterball verwandelte, den sie dann nicht mehr kontrollieren konnte; Mary Jane Rorabacker hegte einen nachhaltigen Groll gegen Cathy, weil diese sie nicht aufgefordert hatte, im zweiten Studienjahr mit ihr, Patty und Shawna in eine Wohngemeinschaft zu ziehen, obwohl sie an der Central High School in St. Paul zusammen doch die Basketballstars gewesen waren; jede Spielerin des Starterteams war, mit schlechtem Gewissen, erleichtert, sowie eine vielversprechende Neue und damit potenzielle Rivalin unter Druck keine ausreichende Leistung zeigte, usw. usw. usw. Aber der Wettkampfsport gründete auf einem Hingabetrick, einer Glaubensmethode, und war einem das in der Mittel-, allerspätestens in der Oberstufe erst einmal vollständig eingebläut worden, brauchte man sich, wenn man zur Sporthalle unterwegs war und loslegte, über nichts Wichtiges mehr Gedanken zu machen, man kannte die Antwort auf die Frage, die Antwort war das Team, und alle lässlichen privaten Angelegenheiten wurden beiseitegeschoben.
Es könnte sein, dass Patty in ihrer Aufregung nach dem Zusammentreffen mit Walter nicht darauf geachtet hatte, genügend zu essen. Auf jeden Fall war von dem Moment an, da sie die Williams Arena betrat, irgendetwas faul. Die UCLA-Spielerinnen waren groß und kraftstrotzend, mindestens drei der Starter eins achtzig oder größer, und Trainerin Treadwells Taktik sah vor, sie durch schnelles Umschalten von Abwehr auf Angriff zu ermüden, sodass die kleineren Spielerinnen, vor allem Patty, lossprinten und Treffer erzielen konnten, bevor die Bruins ihre Verteidigung stehen hatten. Der Plan für die Defensive hingegen war, besonders aggressiv zu sein und zu versuchen, die beiden besten Schützinnen der Bruins frühzeitig in die Foul-Falle zu locken. Niemand erwartete, dass die Gophers gewinnen würden, aber falls es doch geschah, konnten sie es auf den inoffiziellen nationalen Ranglisten unter die ersten zwanzig schaffen und damit besser abschneiden, als es ihnen in Pattys aktiver Spielzeit bisher je gelungen war. Und deshalb war es für sie ein sehr ungünstiger Abend, um den Glauben zu verlieren.
Sie verspürte tief in sich eine sonderbare Schwäche. Zwar konnte sie sich genauso gut dehnen und strecken wie sonst, aber irgendwie fühlten sich ihre Muskeln unelastisch an. Die lauten Anfeuerungsrufe ihrer Mannschaftskameradinnen zerrten an ihren Nerven, und eine Enge in der Brust, eine Art Gehemmtheit, hinderte sie daran, zurückzurufen. Es gelang ihr, alle Gedanken an Eliza wegzusperren, aber stattdessen fing sie an zu überlegen, wieso ihre eigene Karriere in anderthalb Saisons ein für alle Mal vorbei sein würde, wo doch ihre mittlere Schwester nun vielleicht durchstarten und für den Rest ihres Lebens eine berühmte Schauspielerin sein konnte, und was für eine zweifelhafte Investition ihrer Zeit und Energie der Sport somit gewesen war und wie unbekümmert sie die jahrelangen, genau in diese Richtung weisenden Fingerzeige ihrer Mutter ignoriert hatte.
Nichts davon, das lässt sich mit Sicherheit sagen, empfahl sich, vor einem wichtigen Spiel gedacht zu werden.
«Sei einfach du selbst, sei die Beste», sagte Trainerin Treadwell zu ihr. «Wer ist unsere Spielführerin?»
«Ich bin unsere Spielführerin.»
«Lauter.»
«Ich bin unsere Spielführerin.»
«Lauter!»
«ICH bin unsere Spielführerin.»
Wer je einen Mannschaftssport ausgeübt hat, wird wissen, dass Patty sich augenblicklich kräftiger, konzentrierter und führungsstärker fühlte, nur weil sie das gesagt hatte. Komisch, wie dieser Trick funktioniert — die Transfusion von Selbstbewusstsein durch bloße Wörter. Beim Aufwärmen ging es ihr gut, und auch als sie den Bruins-Kapitänen die Hand schüttelte und ihre taxierenden Blicke auf sich spürte, ging es ihr gut, schließlich wusste sie, dass man ihnen gesagt hatte, sie sei eine gefährliche Schützin und die Regisseurin des Gopher'sehen Angriffsspiels; sie legte ihren Ruf als Erfolgsgarantin an wie eine Rüstung. Aber wenn man erst einmal im Spiel ist und das Selbstbewusstsein zu bluten beginnt, ist eine Transfusion von der Seitenlinie aus nicht mehr möglich. Patty erzielte einen einfachen Korb infolge eines schnellen Konters, und das war eigentlich das Ende ihres Abends. Schon in der zweiten Minute merkte sie an dem Kloß in ihrem Hals, dass sie so hundsmiserabel sein würde wie noch nie zuvor. Ihre Gegenspielerin hatte ihr fünf Zentimeter und fünfzehn Kilo und unmenschliche Kapazitäten an vertikaler Sprungfähigkeit voraus, aber das Problem war nicht nur, ja nicht einmal in erster Linie ein physisches. Das Problem war die Niederlage in ihrem Herzen. Anstatt angesichts des ungerechten Körpergrößenvorteils der Bruins leidenschaftlichen Kampfgeist zu entwickeln und dem Ball gnadenlos hinterherzujagen, wie die Trainerin es ihr eingeschärft hatte, fühlte sie sich von eben dieser Ungerechtigkeit bezwungen: tat sie sich selber leid. Die Bruins versuchten es mit einer aggressiven Ganzfeldverteidigung und stellten fest, dass sie damit glänzenden Erfolg hatten. Shawna sicherte einen Abpraller und warf ihn Patty zu, die jedoch in der Ecke eingekesselt wurde und gleich wieder abgab. Sie bekam den Ball erneut und geriet damit ins Aus. Sie bekam den Ball erneut und spielte ihn einer Verteidigerin direkt in die Hände, so als machte sie ihr ein kleines Geschenk. Die Trainerin forderte eine Auszeit und sagte Patty, sie solle sich beim Ballgewinn nach einem gegnerischen Angriff weiter vorn im Feld anbieten; aber auch dort erwarteten die Bruins sie schon. Ein langer Pass glitt ihr aus den Händen, und der Ball landete in den Sitzreihen. Sie kämpfte gegen den Kloß in ihrem Hals an, versuchte wütend zu werden, und schon wurde ein Angreiferfoul gegen sie gepfiffen. Es fehlte ihr an Sprungkraft bei den Distanzwürfen. Zweimal verlor sie den Ball in der Zone, und die Trainerin nahm sie kurz aus dem Spiel, um mit ihr zu sprechen.
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