«Aber du scheinst doch auch ein durch und durch netter Mensch zu sein!», sagte Walter.
Patty wusste, tief in ihrem Herzen, sein Eindruck von ihr war falsch. Und der Fehler, den sie dann machte, der ganz große Lebensfehler, bestand darin, Walters Version von ihr zu übernehmen, obwohl sie wusste, dass es nicht die richtige war. Er war sich ihres guten Charakters offenbar derart sicher, dass er es irgendwann schaffte, sie weich zu klopfen.
Als sie an jenem ersten Abend schließlich auf dem Campus ankamen, fiel Patty auf, dass sie seit einer Stunde unentwegt von sich sprach, während Walter nur Fragen stellte, keine beantwortete. Der Gedanke, jetzt ihrerseits nett zu sein und Interesse an ihm zu zeigen, erschien ihr einfach bloß anstrengend, denn sie wollte ja nichts von ihm.
«Kann ich dich mal anrufen?», sagte er sie vor der Tür ihres Wohnheims.
Sie erklärte ihm, sie werde trainingsbedingt in den nächsten Monaten nicht viel unternehmen können. «Aber es war unheimlich lieb von dir, mich nach Hause zu bringen», sagte sie. «Vielen, vielen Dank.»
«Interessierst du dich für Theater? Ich habe ein paar Freundinnen, mit denen ich regelmäßig ins Theater gehe. Es müsste kein Treffen zu zweit sein oder so.»
«Ich habe einfach zu viel um die Ohren.»
Er ließ nicht locker. «In Sachen Theater ist das hier eine großartige Stadt», sagte er. «Es würde dir bestimmt Spaß machen.»
Ach, Walter: Wusste er, dass in jenen Monaten, als Patty und er sich immer besser kennenlernten, das Reizvollste an ihm seine Freundschaft mit Richard Katz war? Merkte er, dass Patty jedes Mal, wenn sie sich sahen, das Gespräch geschickt auf Richard lenkte? Ahnte er an jenem ersten Abend, dass sie ihm nur deshalb zubilligte, sie mal anzurufen, weil sie dabei an Richard dachte?
Im Haus, oben an ihrer Tür, fand sie eine Nachricht von Eliza vor, die sich in der Zwischenzeit telefonisch gemeldet hatte. Von all dem Rauch in ihren Haaren und Kleidern tränten Patty die Augen, und so saß sie dann in ihrem Zimmer, bis Eliza erneut auf dem Flurtelefon anrief, Clubgeräusche im Hintergrund, und ihr Vorhaltungen machte, weil sie ihr mit ihrem Verschwinden einen Mordsschrecken eingejagt habe.
«Du bist doch diejenige, die verschwunden ist», sagte Patty.
«Ich habe nur Richard hallo gesagt.»
«Du warst bestimmt eine halbe Stunde weg.»
«Und was ist mit Walter?», sagte Eliza. «Seid ihr zusammen weggegangen?»
«Er hat mich nach Hause gebracht.»
«Ihh, fies. Hat er dir gesagt, wie grässlich er mich findet? Ich glaube, er ist regelrecht eifersüchtig auf mich. Irgendwie steht er wohl auf Richard. Vielleicht ist er schwul.»
Patty blickte den Flur hinauf und hinunter, um sich zu vergewissern, dass keiner zuhörte. «Hast du Carter die Drogen zum Geburtstag geschenkt?»
«Was? Ich kann dich kaum verstehen.»
«Hast du das Zeug besorgt, das ihr an seinem Geburtstag genommen habt, du und Carter?»
«Ich kann dich kaum verstehen!»
«DAS KOKS AN CARTERS GEBURTSTAG, HAST DU IHM DAS MITGEBRACHT?»
«Nein! Mein Gott! Bist du deshalb gegangen? Bist du deshalb so sauer? Hat Walter dir das etwa eingeredet?»
Mit bebendem Unterkiefer hängte Patty ein und ging eine Stunde lang duschen.
Prompt kam es zu einem weiteren Verteidigungsmanöver von Eliza, das diesmal jedoch halbherzig war, weil Eliza nun zugleich Richard nachsetzte. Als Walter seine Drohung wahr machte und Patty anrief, war sie geneigt, sich doch mit ihm zu treffen, und zwar nicht nur wegen seiner Verbindung zu Richard, sondern auch, weil es einen gewissen Reiz für sie hatte, Eliza gegenüber nicht loyal zu sein. Walter erwies sich als taktvoll genug, Eliza nicht noch einmal zu erwähnen, aber Patty war sich seiner Meinung über sie ständig bewusst, und irgendeinem tugendhaften Teil von ihr gefiel es, Kulturveranstaltungen zu besuchen, anstatt Weinschorle zu trinken und wieder und wieder dieselben Platten anzuhören. Alles in allem sah sie mit Walter in jenem Herbst zwei Theaterstücke und einen Film. Als für sie die Saison wieder begann, sah sie ihn außerdem, ohne Begleitung, rotgesichtig, bestens unterhalten, auf der Tribüne sitzen und winken, wann immer sie in seine Richtung schaute. Er machte es sich zur Gewohnheit, sie am Tag nach einem Spiel anzurufen, um von ihrer Leistung zu schwärmen und ein differenziertes Strategieverständnis an den Tag zu legen, wie Eliza es nie auch nur vorzutäuschen versucht hatte. Wenn er sie nicht erreichte und eine Nachricht hinterlassen musste, hatte das für sie den zusätzlichen Reiz, dass sie ihn zurückrufen und hoffen konnte, statt seiner mit Richard zu sprechen, aber Richard schien leider Gottes nie zu Hause zu sein, wenn Walter unterwegs war.
In den winzigen Lücken zwischen den Zeitblöcken, in denen sie Walters Fragen beantwortete, brachte sie immerhin in Erfahrung, dass er aus Hibbing, Minnesota, stammte und sein Jurastudium zum Teil selbst finanzierte, indem er bei demselben Bauunternehmer, der Richard als Hilfsarbeiter beschäftigte, einen Teilzeitjob als Schreiner hatte, und dass er, um sein Studienpensum zu bewältigen, jeden Morgen um vier Uhr aufstehen musste. Er fing immer schon gegen neun Uhr abends an zu gähnen, was Patty, wenn sie etwas zusammen unternahmen, nur recht sein konnte, weil sie selbst so viel zu tun hatte. Wie versprochen, schlossen sich ihnen stets drei Freundinnen von ihm aus der Schule und dem College an, drei intelligente, kreative junge Frauen, deren Gewichtsprobleme und weitgeschnittene Kleider Eliza zu beißenden Kommentaren veranlasst hätten, wenn sie ihnen denn je begegnet wäre. Von dieser ihm ergebenen Troika bekam Patty auch einen ersten Eindruck davon vermittelt, was für ein sagenhaft anständiger Mensch er war.
Laut seinen Freundinnen war Walter in einem beengten Wohnbereich hinter dem Büroraum eines Motels namens The Whispering Pines aufgewachsen, mit einem Alkoholikervater, einem älteren Bruder, der ihn regelmäßig verprügelte, einem jüngeren Bruder, der dem Älteren gewissenhaft darin nacheiferte, sich über Walter lustig zu machen, und einer Mutter, deren körperliche Gebrechen und allgemeine Antriebsschwäche ihre Tauglichkeit als Reinigungskraft und Nachtrezeptionistin des Motels so sehr einschränkten, dass Walter im Sommer, während der Hochsaison, häufig den ganzen Nachmittag lang die Zimmer sauber machte und abends spät eintreffende Gäste in Empfang nahm, während der Vater mit seinen Veteranenkumpels trank und die Mutter schlief. Das kam zu seinen regulären Aufgaben noch hinzu, denn hauptsächlich musste er seinem Vater bei der Instandhaltung der Motelanlage helfen, was von der Ausbesserung des Parkplatzes über das Freispindeln verstopfter Abflüsse bis hin zur Reparatur des Boilers so gut wie alles umfasste. Sein Vater war auf seine Hilfe angewiesen, und Walter gewährte sie ihm in der beständigen Hoffnung, seine Anerkennung zu erlangen, die ihm jedoch, so Walters Freundinnen, verwehrt bleiben würde, weil er zu sensibel und zu gebildet war und sich (anders als seine Brüder) nicht genügend für Jagden, Trucks und Bier begeisterte. Obwohl er also so etwas wie einen ganzjährigen, unbezahlten Vollzeitjob hatte, war es Walter auch noch gelungen, Hauptrollen in schulischen Theater- und Musicalaufführungen zu übernehmen, etlichen Freunden aus Kindertagen die Treue zu halten, von seiner Mutter kochen und die Grundlagen des Nähens zu lernen, seinem Interesse an der Natur nachzugehen (tropische Fische; Ameisenfarmen; Notfallversorgung verwaister Nestlinge; Blumen pressen) und die Highschool als Jahrgangsbester abzuschließen. Er bekam ein Stipendienangebot für eine der Ivy-League-Eliteuniversitäten, entschied sich aber für das Macalester, weil es nur gerade so weit von Hibbing entfernt war, dass er an den Wochenenden mit dem Bus nach Hause fahren und seiner Mutter im Kampf gegen den um sich greifenden Verfall des Motels helfen konnte (der Vater hatte offenbar inzwischen ein Lungenemphysem und war zu nichts mehr zu gebrauchen). Walter hatte davon geträumt, Filmregisseur oder sogar Schauspieler zu werden, doch stattdessen studierte er nun Jura, denn «irgendjemand in der Familie», so hatte er sich wohl ausgedrückt, musste schließlich «ein richtiges Einkommen haben».
Читать дальше