Aber wir wollen es nicht übertreiben, denn gerade da ist ja der Haken: Ich bin da, und ich weiß wohl, dass ich jeden Gesichtspunkt gelten lasse, um den Preis, dass ich leben darf. Ja, und wie ich so über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz blicke, die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße, da spüre ich schon, wie in mir die Bereitschaft wächst und schwillt: Ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen. Meine Mutter wartet auf mich und wird sich wahrscheinlich sehr über mein Auftauchen freuen, die Arme. Ich erinnere mich, früher hatte sie den Plan, dass aus mir einst ein Ingenieur, ein Arzt oder dergleichen werde. Es wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch so werden, wie sie es wünscht; es gibt keine Absurdität, die man nicht ganz natürlich leben würde, und auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in der Pause zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war. Alle fragen mich immer nur nach Übeln, den «Gräueln»: obgleich für mich vielleicht gerade diese Erfahrung die denkwürdigste ist. Ja, davon, vom Glück der Konzentrationslager, müsste ich ihnen erzählen, das nächste Mal, wenn sie mich fragen.
Wenn sie überhaupt fragen. Und wenn ich es nicht selbst vergesse.
«Ein literarisches Meisterwerk.» (Der Spiegel)
Imre Kertész ist etwas Skandalöses gelungen: die Entmystifizierung von Auschwitz. Es gibt kein literarisches Werk, das in dieser Konsequenz, ohne zu deuten, ohne zu werten, der Perspektive eines staunenden Kindes treu geblieben ist. Wohl nie zuvor hat ein Autor seine Figur Schritt für Schritt bis an jene Grenze hinab begleitet, wo das nackte Leben zur hemmungslosen, glücksüchtigen, obszönen Angelegenheit wird.
Am 9. November 1929 in Budapest geboren, wurde Imre Kertész 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Nach Kriegsende folgte die journalistische Tätigkeit bei der Tageszeitung «Világosság», die bald umbenannt und zum Parteiorgan der Kommunisten wurde. Nach seiner Entlassung bestritt Kertész seit 1953 seinen Lebensunterhalt als freier Schriftsteller und schrieb Musicals und Unterhaltungsstücke für das Theater. Im Jahre 2002 wurde er mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet.
Das bekannteste Werk des Autors, «Roman eines Schicksallosen», erschien auf Ungarisch 1975. Seitdem ist es in mehr als 40 Sprachen übersetzt worden. Die Verfilmung des Romans durch Lajos Koltai wurde einem internationalen Publikum im Wettbewerb der Berlinale 2005 präsentiert.
Weitere Veröffentlichungen:
Kaddisch für ein nicht geborenes Kind. 1992
Galeerentagebuch. 1993
Ich – ein anderer. 1998
Eine Gedankenlänge Stille, während das Erschießungskommando neu lädt. 1999
Fiasko. 1999
Die englische Flagge. 2002
Detektivgeschichte. 2004
Liquidation. 2005
Roman eines Schicksallosen. Das Buch zum Film. 2005
Dossier K. 2006
Briefe an Eva Haldimann. 2009