Bei anderer Gelegenheit wiederum musste ich mich ein bisschen über Bandi Citrom wundern. Ob bei der Arbeit, ob bei der Ruhepause, immer wieder hörte ich, und lernte es auch bald von ihm, sein Lieblingslied, das er aus seiner Zeit beim Arbeitsdienst in der Strafkompanie mitgebracht hatte. «In der Ukra-ine suchen wir Mi-nen/doch Furcht kennen wir ni-i-icht» – so begann es, und vor allem seine letzte Strophe ist mir ans Herz gewachsen: «Und fällt ein Kamerad, ein guter Gefährte/so sagt denen daheim/was immer geschieht/dir, teure Heimaterde/werden wir niemals treulos sein.» Das war schön, ganz unbestreitbar, und die etwas traurige, eher schleppende und keineswegs zackige Melodie und die Worte dieses Liedes verfehlten natürlich auch bei mir ihre Wirkung nicht – nur erinnerten sie mich eben auch an den Gendarmen, damals in der Eisenbahn, der uns auf unser Ungartum hingewiesen hatte: Schließlich waren auch sie von der Heimat bestraft worden, strenggenommen. Das habe ich dann Bandi Citrom gegenüber auch einmal erwähnt. Er fand zwar kein Gegenargument, aber er schien ein bisschen verlegen, um nicht zu sagen verärgert. Am nächsten Tag fing er es dann bei der ersten besten Gelegenheit, ganz selbstvergessen, wieder zu pfeifen, zu summen, zu singen an, als ob er von nichts mehr wüsste. Ein anderer Gedanke, den er nicht selten wiederholte, war, er werde schon «das Pflaster der Nefelejts-Straße noch unter den Füßen spüren» – da wohnte er nämlich, und diese Straße, aber auch die Hausnummer, hat er so häufig und in so vielen Abwandlungen erwähnt, dass ich ihre ganze Anziehungskraft schließlich schon selbst zu fühlen begann, mich beinahe schon selbst dahin zurücksehnte, obgleich ich sie eigentlich als eine eher abgelegene Seitenstraße in Erinnerung hatte, irgendwo in der Gegend des Ostbahnhofs. Er sprach noch oft von dieser Gegend, beschwor bestimmte Ecken für mich herauf, bestimmte, allgemein bekannte Ankündigungen und Reklamezeilen, die an den Häuserfronten und in den verschiedenen Schaufenstern leuchten, mit seinen Worten: «die Lichter von Budapest», wobei ich ihn dann aber doch berichtigen und erklären musste, dass es diese Lichter nicht mehr gab, wegen der Verdunkelungsvorschrift, und dass die Bomben in der Tat das Stadtbild da und dort schon einigermaßen verändert hatten. Er hörte mir zu, aber wie mir schien, waren diese Informationen nicht so recht nach seinem Geschmack. Am nächsten Tag fing er dann, sobald sich eine Gelegenheit bot, aufs neue von den Lichtern an.
Aber wer kennt schon alle Abarten des Eigensinns, und ich hätte in Zeitz bestimmt – wäre es möglich gewesen – noch zahlreiche andere herausfinden können. Ich hörte viel von der Vergangenheit, viel von der Zukunft, und vor allem hörte ich sehr viel – und ich kann sagen: nirgends kann man anscheinend davon so viel hören wie gerade unter Gefangenen – von der Freiheit, und das ist schließlich, so glaube ich, auch ganz verständlich. Andere wiederum schöpften eine eigentümliche Freude aus einem Spruch, einem Scherz, einer Art Witz. Ich hatte ihn natürlich auch schon gehört. Es gibt eine bestimmte Zeit des Tages, zwischen der Rückkehr aus der Fabrik und dem Abendappell, eine besondere, stets lebendige und zwanglose Stunde, die ich im Lager immer am meisten erwartete und liebte – im Übrigen ist das im Allgemeinen auch die Essenszeit. Ich bahnte mir gerade zwischen emsig Geschäfte machenden und tratschenden Gruppen einen Weg über den Hof, als jemand mit mir zusammenstieß, und unter der zu weiten Sträflingsmütze, über jener charakteristischen Nase, aus jenem charakteristischen Gesicht sah mich ein Paar winziger, bekümmerter Augen an; «da schau her», sagten wir beide mehr oder weniger gleichzeitig, nachdem er mich und ich ihn erkannt hatte: Es war der Pechvogel. Er schien gleich sehr erfreut und erkundigte sich, wo ich untergebracht sei. Ich sagte, in Block fünf. «Schade», sagte er bedauernd, er wohne woanders. Er klagte, dass er nie Bekannte sehe, und als ich ihm sagte, ich eigentlich auch nicht, wurde er plötzlich, ich weiß nicht warum, irgendwie traurig. «Wir verlieren uns aus den Augen, wir verlieren uns alle noch», so bemerkte er, und in seinen Worten, seiner Art, den Kopf zu schütteln, war noch irgendein anderer, für mich ziemlich undurchsichtiger Sinn. Dann aber leuchtete sein Gesicht plötzlich auf, und er fragte: «Wissen Sie, was das hier» – er zeigte auf seine Brust – «bedeutet, dieses U?» Ich sagte, ja natürlich: Ungar. «Nein», erwiderte er, «Unschuldig» , dann hat er auf eine bestimmte Art kurz gelacht und danach noch lange mit sinnender Miene genickt, so als sei dieser Gedanke für ihn besonders wohltuend, ich weiß auch nicht, warum. Und genau das Gleiche sah ich dann bei den anderen im Lager, von denen ich, und das anfänglich ziemlich oft, diesen Witz auch noch hörte: Als schöpften sie daraus irgendein wärmendes, kraftspendendes Gefühl – darauf zumindest verwies das immer gleiche Lachen, die immer gleiche Gelöstheit in den Gesichtern, dieser schmerzlich lächelnde und doch auch irgendwie entzückte Ausdruck, mit dem sie den Witz jedes Mal erzählten oder anhörten, irgendwie so, wie wenn man eine sehr zu Herzen gehende Musik oder eine besonders bewegende Geschichte vernimmt.
Doch auch bei ihnen sah ich nichts anderes als das immer gleiche Bemühen, den gleichen guten Willen: Auch ihnen ging es darum, gute Häftlinge zu sein. Es bestand kein Zweifel, das war unser Interesse, das verlangten die Umstände, dazu zwang uns hier, wie soll ich sagen, das Leben selbst. Waren zum Beispiel die Reihen mustergültig ausgerichtet und stimmte der gegenwärtige Bestand, dann dauerte der Appell weniger lange – anfangs zumindest. Waren wir zum Beispiel bei der Arbeit fleißig, dann konnten wir Schläge vermeiden – öfter zumindest.
Und doch, glaube ich, war es nicht allein dieser Gewinn, nicht allein dieser Nutzen, der unser aller Denken bestimmte, zumindest am Anfang nicht, das kann ich ehrlich sagen. Da war zum Beispiel die Arbeit, der erste Arbeitsnachmittag, um gleich damit anzufangen: Die Aufgabe war, einen Waggon mit grauem Schotter auszuladen. Wenn Bandi Citrom, nachdem wir uns – natürlich mit Erlaubnis des Aufsehers, diesmal eines schon älteren und auf den ersten Blick eher harmlosen Soldaten – obenherum ausgezogen hatten (da sah ich zum ersten Mal Bandis gelblichbraune Haut, das Spiel seiner großen, glatten Muskeln darunter und das Muttermal unter der linken Brust), wenn er also sagte: «Na, dann zeigen wir denen mal, wozu ein Budapester in der Lage ist!», dann meinte er das völlig ernst. Und ich kann sagen, in Anbetracht dessen, dass ich ja zum ersten Mal in meinem Leben eine eiserne Forke in der Hand hatte, schienen sowohl unser Aufseher wie auch der hin und wieder vorbeischauende, wie eine Art Polier aussehende Mann, der wohl in der Fabrik tätig war, recht zufrieden, was unseren Schwung natürlich noch steigerte, versteht sich. Wenn aber, als sich mit der Zeit an meinen Handflächen ein Brennen bemerkbar machte und ich sah, dass die Haut unterhalb der Finger ganz blutig war, wenn da unser Aufseher herüberrief: «Was ist denn los?» , und wenn er sich darauf, als ich ihm lachend meine Hände zeigte, auf einmal sehr verfinsterte, sogar an seinem Gewehrriemen riss und befahl: «Arbeiten! Aber los!» , dann ist es letztlich nur natürlich, dass sich auch mein Interesse auf etwas anderes richtete. Von da an hatte ich nur noch das eine im Kopf: Wie kann ich, wenn er nicht hersieht, ganz kurz eine Pause einschalten, wie kann ich möglichst wenig auf Schaufel, Forke, Spaten nehmen, und ich muss sagen, dass ich später in solchen Kniffen ziemliche Fortschritte gemacht und wenigstens auf diesem Gebiet eine viel größere Kundigkeit, Kenntnis und Übung erworben habe als bei jeder der Arbeiten, die mir aufgegeben wurden. Und wer hatte denn eigentlich etwas davon? – wie einst, ich erinnere mich, die Frage des «Experten» gelautet hatte. Ich behaupte: Da stimmte etwas nicht, da war ein Fehler im Getriebe, ein Versäumnis, ein Versagen. Schon irgendein Wort, irgendein Zeichen, ein Aufblitzen der Anerkennung, nur hin und wieder ein Funken davon: Mir jedenfalls hätte das mehr genützt. Denn was haben wir uns denn persönlich vorzuwerfen, wenn wir es recht bedenken? Und das Gefühl der Eitelkeit bleibt uns ja auch in der Gefangenschaft erhalten; wer hätte nicht heimlich das Bedürfnis nach ein klein wenig Freundlichkeit, und mit einsichtigen Worten kämen wir weiter, fand ich.
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