Alles in allem, das kann ich sagen, ist so der ganze Tag vergangen. Zu guter Letzt ist dann auch der Befehl gekommen, ungefähr um vier Uhr, genau so, wie es der Polizist versprochen hatte. Er lautete dahingehend, dass wir uns zur «vorgesetzten Behörde» zu begeben hatten, zwecks Vorweisung unserer Papiere – so hat es uns der Polizist mitgeteilt. Er seinerseits muss die Anweisung über das Telefon erhalten haben, denn zuvor hatten wir schon geschäftige Laute aus seinem Zimmer vernommen, die auf eine Veränderung hindeuteten: das wiederholte, drängende Klingeln des Apparats, dann, wie er selbst Verbindungen wählte und ein paar Angelegenheiten kurz und knapp erledigte. Der Polizist hat dann noch gesagt, dass man es ihm zwar auch nicht genau mitgeteilt habe, dass es sich aber seines Erachtens um nichts als eine kurze Formalität handeln könne, zumindest in Fällen, die vom gesetzlichen Standpunkt gesehen so klar und unzweifelhaft seien wie beispielsweise der unsrige.
Der Zug hat sich in Dreierreihen formiert und in Bewegung gesetzt, wieder zur Stadt zurück, von allen Grenzübergängen der Gegend gleichzeitig – wie ich unterwegs dann feststellen konnte. Als wir nämlich die Brücke hinter uns gelassen hatten, sind wir hier und da, in einer Kurve oder an einer Kreuzung, mit anderen Gruppen zusammengetroffen, die sich ebenfalls aus soundso viel Leuten mit gelbem Stern und einem, zwei, ja in einem Fall sogar drei Polizisten zusammensetzten. Bei einer solchen Gruppe habe ich auch den Polizisten mit dem Fahrrad erkannt. Ich habe auch bemerkt, dass sich die Polizisten bei dieser Gelegenheit immer nur ganz knapp, sozusagen dienstlich begrüßten, so als ob sie schon vorher mit dem Treffen gerechnet hätten, und erst da habe ich die geschäftlichen telefonischen Erledigungen unseres Polizisten von vorhin verstanden: Sie hatten also wohl jeweils die Zeitpunkte festgelegt, scheint mir. Schließlich fand ich mich inmitten einer schon recht ansehnlichen Marschkolonne, und zu beiden Seiten flankierten Polizisten in eher kürzeren Abständen unseren Zug.
So sind wir, immer auf der Fahrbahn, ziemlich lange marschiert. Es war ein schöner, klarer Sommernachmittag, auf den Straßen eine bunte Menge, wie immer um diese Stunde; doch ich nahm das alles ein bisschen verwischt wahr. Ich habe dann auch bald die Orientierung verloren, da wir zumeist auf Chausseen und Straßen gingen, die ich nicht recht kannte. Und dann wurden es ja ständig mehr Straßen, und der Verkehr und vor allem das beschwerliche Vorwärtskommen, wie das bei einer geschlossenen Marschkolonne unter solchen Umständen nun einmal ist, haben meine Aufmerksamkeit ziemlich in Anspruch genommen und bald erschöpft. Was ich von dem ganzen langen Weg noch weiß, ist eigentlich nur diese hastige, zögernde, in gewisser Weise fast schon verstohlene Neugier, mit der die Fußgänger von den Gehsteigen auf unseren Zug blickten (zu Beginn amüsierte es mich, mit der Zeit achtete ich dann kaum noch darauf) – ja und dann noch ein späterer Moment, der einigermaßen verworren ist. Wir waren gerade auf einer breiten, äußerst belebten Vorortstraße unterwegs, überall um uns herum ein dichter, unerträglich lärmender Verkehrsstrom; ich weiß gar nicht, wie sich an einer bestimmten Stelle, nicht weit vor mir, eine Straßenbahn in unseren Zug hatte hereinkeilen können. Uns blieb nichts übrig, als stehen zu bleiben, um sie durchzulassen – und da wurde ich auf das plötzliche Aufblitzen eines gelben Kleidungsstücks aufmerksam, da vorn, in einer Wolke von Staub, Lärm und Ausdünstung: Der «Reisende» war es. Ein einziger langer Satz, und schon war er untergetaucht, seitlich irgendwo, im Strudel der Menschen und Wagen. Ich war ganz verblüfft: Das alles passte irgendwie nicht so recht zu seinem Verhalten im Zollhaus, fand ich. Aber gleichzeitig empfand ich noch etwas anderes, ich war irgendwie angenehm überrascht, wie einfach diese Handlung war: Und tatsächlich, dann sah ich, wie ein, zwei unternehmungslustige Geister dort vorn gleich loszogen, ihm nach. Auch ich habe mich umgeschaut, zwar eher, wie soll ich sagen, des Spieles halber – denn schließlich sah ich ja keinen Grund, mich aus dem Staub zu machen –, und ich glaube, ich hätte sogar genug Zeit dazu gehabt: Aber dann hat sich der Anstand in mir doch als stärker erwiesen. Danach sind die Polizisten auch gleich eingeschritten, und die Reihen um mich herum haben sich wieder geschlossen.
Eine Zeit lang sind wir noch weitermarschiert, und dann ist alles ganz schnell, unerwartet und ein wenig überraschend abgelaufen. Wir sind irgendwo abgebogen, und wie ich sah, mussten wir am Ziel angekommen sein, denn die Straße führte zwischen den weit offenen Flügeln eines Tors hindurch. Erst dann bemerkte ich, dass hinter dem Tor anstelle der Polizisten bereits andere an unsere Seite getreten waren, gekleidet wie Soldaten, aber mit bunten Federn an den Schirmmützen: Gendarmen. Sie führten uns durch ein Labyrinth von grauen Gebäuden, immer weiter hinein, bis zu einem sich plötzlich öffnenden, mit weißem Schotter bestreuten riesigen Platz – eine Art Kasernenhof, wie mir schien. Und zugleich erblickte ich die hohe, gebieterisch aussehende Gestalt eines Mannes, der vom gegenüberliegenden Gebäude her direkt auf uns zukam. Er trug hohe Stiefel und eine enganliegende Uniform mit goldenen Sternen und einen Lederriemen quer über der Brust. In einer seiner Hände sah ich ein dünnes Stöckchen, von der Art, wie man sie beim Reiten benutzt, mit dem er sich fortwährend gegen den lackglänzenden Stiefelschaft klopfte. Einen Moment später, als wir schon reglos in Reih und Glied standen, konnte ich auch sehen, dass er auf seine Art ein schöner Mann war, mit abgehärteten und gewinnend männlichen Zügen, alles in allem ein bisschen an die Helden im Film erinnernd, mit einem modisch geschnittenen, schmalen braunen Schnurrbart, der sehr gut zu dem sonnengebräunten Gesicht passte. Als er herangekommen war, hat uns ein Befehl der Gendarmen alle starr stehen lassen. Von allem, was danach kam, sind mir bloß zwei schnell aufeinanderfolgende Eindrücke geblieben: die krächzende, mehr oder weniger an einen Marktschreier erinnernde Stimme des Gestiefelten, die mich bei seinem sonst so gepflegten Äußeren dermaßen verblüfft hat, dass ich mir vielleicht schon deswegen nicht viel von seinen Worten gemerkt habe. So viel jedenfalls habe ich verstanden, dass er die «Untersuchung» – diesen Ausdruck hat er verwendet – in unserer Angelegenheit erst morgen durchzuführen gedachte, darauf hat er sich sogleich an die Gendarmen gewandt und ihnen mit einer über den ganzen Platz tönenden Stimme befohlen, sie sollten «dieses ganze jüdische Gesindel» dorthin bringen, wo es seiner Meinung nach eigentlich hingehöre, nämlich in den Pferdestall, und es dort über Nacht einsperren. Und der zweite Eindruck war das unübersichtliche, von lauten Befehlen erfüllte Durcheinander, das sofort darauf eintrat, die gebrüllten Anweisungen der plötzlich in Schwung versetzten Gendarmen, die uns wegtrieben. Ich wusste auf einmal gar nicht mehr, wo mir der Kopf stand, und ich erinnere mich nur daran, dass ich die ganze Zeit fast auch ein bisschen lachen musste, einerseits vor Staunen und Verlegenheit, aus dem Gefühl, plötzlich in irgendein sinnloses Stück hineingeraten zu sein, in dem ich meine Rolle nicht recht kannte, andererseits wegen einer flüchtigen Vorstellung, die mir gerade so durch den Sinn huschte: das Gesicht meiner Stiefmutter, wenn sie heute Abend merken würde, dass sie mit dem Abendessen umsonst auf mich wartete.
Am meisten mangelte es in der Eisenbahn an Wasser. Lebensmittel schienen, alles eingerechnet, für lange Zeit zur Genüge vorrätig zu sein; aber wir hatten eben nichts zum Trinken dazu, und das war doch recht unangenehm. Die in der Eisenbahn haben gleich gesagt: Der erste Durst, das ist bald vorüber. Schließlich hätte man ihn schon fast vergessen, erst da trete er von neuem auf – bloß lasse er dann kein Vergessen mehr zu, erklärten sie. Sechs, sieben Tage – behaupteten die Sachverständigen –, das sei die Zeit, die man im Notfall, und auch das warme Wetter eingerechnet, ohne Wasser überstehen könne, vorausgesetzt, man sei gesund, verliere nicht zu viel Schweiß und esse kein Fleisch und keine Gewürze. Vorläufig – so redeten sie uns zu – hätten wir noch Zeit; alles hinge davon ab, wie lange die Reise dauern werde, sagten sie noch. Tatsächlich war ich selbst auch neugierig darauf: In der Ziegelei hatten sie das nicht mitgeteilt. Insgesamt hatten sie nur so viel verlauten lassen, dass jeder, der Lust habe, sich zur Arbeit melden könne, und zwar in Deutschland. Den Gedanken fand ich, genauso wie die übrigen Jungen und viele andere in der Ziegelei, sofort reizvoll. Überhaupt – so sagten es die durch Armbinden kenntlich gemachten Leute von einer gewissen Körperschaft, die sich «Judenrat» nannte – so oder so, willig oder nicht willig, wir alle würden auf jeden Fall früher oder später aus der Ziegelei nach Deutschland ausgesiedelt, und denen, die sich als Erste freiwillig meldeten, würde ein besserer Platz zuteil und dazu noch die Vergünstigung, dass sie insgesamt zu sechzig in einem Wagen reisen könnten, während später wenigstens achtzig Platz finden müssten, wegen der ungenügenden Anzahl von Zügen, die zur Verfügung standen – wie sie es jedermann erklärten: Das ließ der Überlegung in der Tat nicht mehr viel Raum, wie auch ich fand.
Читать дальше