Dann war da noch ein seltsames Männchen mit einer eigentümlichen Nase, einem großen Rucksack, einer sogenannten «Golfhose» und riesengroßen Stiefeln; selbst der gelbe Stern schien an ihm größer als üblich. Er machte sich schon mehr Sorgen. Er jammerte vor allem über sein «Pech». Ich habe mir seinen Fall ungefähr gemerkt, weil es eine einfache Geschichte war und er sie mehrere Male erzählt hat. Er habe seine «schwerkranke» Mutter in der Gemeinde Csepel besuchen wollen, so sagte er. Dafür hatte er sich bei den Behörden eigens eine Genehmigung beschafft, da, er zeigte sie. Die Bewilligung lautete auf den heutigen Tag, bis nachmittags zwei Uhr. Doch da war ihm etwas dazwischengekommen, eine Angelegenheit, die er als «unaufschiebbar» bezeichnete, «im Interesse des Betriebs», wie er hinzufügte. Auf dem Amt jedoch seien noch andere vor ihm dran gewesen, und so sei er erst spät an die Reihe gekommen. Er habe schon die ganze Reise gefährdet gesehen, sagte er. Er ist dann aber doch noch zur Straßenbahn geeilt, um nach seinem ursprünglichen Plan zur Bus-Endstation zu gelangen. Unterwegs hatte er die voraussichtliche Dauer von Hin- und Rückweg mit der bewilligten Zeit verglichen und ausgerechnet, dass es tatsächlich schon riskant war loszufahren. An der Endstation hat er dann jedoch gesehen, dass der Mittagsbus gerade noch dastand. Und da, so ließ er uns wissen, hat er dann gedacht: «Wie viel Scherereien ich doch wegen dieses Stückchens Papier hatte … Und» – so hat er hinzugefügt – «das arme Mütterchen wartet.» Er erwähnte, dass die alte Frau ihm und seiner Frau allerdings schon einige Probleme gemacht habe. Sie hätten sie schon lange angefleht, zu ihnen zu ziehen, in die Stadt. Doch die Mutter habe sich so lange gesträubt, bis es zu spät geworden sei. Er schüttelte vorwurfsvoll den Kopf, denn er meinte, die alte Frau hinge nur «um jeden Preis» an ihrem Haus. «Obwohl es nicht einmal Komfort hat», bemerkte er. Aber nun ja, so fuhr er fort, er müsse sie verstehen, da sie doch seine Mutter sei. Und die Arme sei krank, hat er noch hinzugesetzt, und alt sei sie auch schon. Und er sagte, er habe gewusst, dass er es sich «vielleicht nie verzeihen» könnte, wenn er diese einzige Gelegenheit verpassen würde. Und so sei er eben doch in den Autobus gestiegen. An diesem Punkt ist er für einen Augenblick verstummt. Er hat die Hände hochgehoben und sie dann langsam wieder sinken lassen, mit einer ratlosen Bewegung, während sich auf seiner Stirn gleichzeitig Hunderte von winzigen fragenden Fältchen bildeten: Er glich ein wenig einem traurigen, in die Falle geratenen Nagetier. Was sie meinten, hat er dann die anderen gefragt, ob ihm jetzt aus der Angelegenheit Schwierigkeiten erwachsen könnten. Und ob man in Betracht ziehen würde, dass die Überschreitung des eingeräumten Zeitpunkts nicht sein Verschulden war. Und was wohl seine Mutter denke, die er von seinem Kommen benachrichtigt hatte, und daheim seine Frau mit den beiden kleinen Kindern, wenn er um zwei Uhr nicht nach Hause komme. Hauptsächlich, das merkte ich an der Richtung seiner Blicke, schien er von dem erwähnten, würdevoll aussehenden Mann, dem «Experten», eine Meinungsäußerung zu diesen Fragen zu erwarten. Ich sah aber, dass dieser ihn kaum beachtete: Er hatte gerade eine Zigarette in der Hand, die er kurz zuvor hervorgeholt hatte, und klopfte mit ihrem Ende auf den mit erhabenen Buchstaben und Linien verzierten Deckel seiner silbrig glänzenden Zigarettendose. Auf seinem Gesicht lag ein versunkener Ausdruck, und mir schien, er war in irgendwelchen fernen Gedanken verloren und hatte von der ganzen Geschichte überhaupt nichts mitbekommen. Dann hat der andere von neuem von seinem Pech angefangen: Wäre er nur fünf Minuten später an der Endstation angekommen, dann hätte er den Mittagsbus nicht mehr erreicht, und wenn der nicht mehr dort gewesen wäre, hätte er nicht mehr auf den nächsten gewartet und dann – vorausgesetzt, all das wäre «um fünf Minuten verschoben» abgelaufen – würde er jetzt «nicht hier sitzen, sondern zu Hause», so hat er immer von neuem erklärt.
Na und dann erinnere ich mich noch an den Mann mit dem Seehundgesicht: Er war beleibt, trug einen dichten schwarzen Schnurrbart und eine Brille mit Goldrand und wollte fortwährend den Polizisten «sprechen». Es ist mir auch nicht entgangen, dass er das immer separat, in einiger Entfernung zu den anderen zu bewerkstelligen versuchte, nach Möglichkeit in einer Ecke oder bei der Tür. «Herr Kommissar», so vernahm ich hin und wieder seine erstickte, leicht krächzende Stimme, «könnte ich Sie mal sprechen?» Oder: «Ich bitte sehr, Herr Kommissar … nur auf ein Wort, mit Verlaub …» Schließlich hat der Polizist dann auch einmal gefragt, was er denn wünsche. Da aber schien er zu zögern. Er ließ seine Brille misstrauisch in die Runde blitzen. Und obwohl sie diesmal in einer Ecke des Raums standen, die ziemlich in meiner Nähe war, habe ich dem dumpfen Gemurmel dann doch nichts entnehmen können: Irgendetwas schien er immer wieder zu beteuern. Dabei erschien so ein vertrauliches, süßliches Lächeln auf seinem Gesicht. Gleichzeitig neigte er sich erst ein bisschen, dann stufenweise immer mehr und schließlich ganz zu dem Polizisten hin. Dazwischen, noch immer zur gleichen Zeit, sah ich ihn auch eine seltsame Geste machen. Die Angelegenheit war mir nicht ganz klar: Zunächst kam es mir vor, als wollte er eigentlich in seiner Innentasche nach etwas greifen. Ich dachte noch angesichts dieser offenbar irgendwie bedeutsamen Bewegung, er wollte vielleicht dem Polizisten ein wichtiges Schriftstück, irgendein außerordentliches oder besonderes Dokument vorweisen. Doch ich habe vergeblich darauf gewartet, was da zum Vorschein kommen würde, weil er dann die Bewegung doch nicht ganz ausgeführt hat. Er hat sie aber auch nicht ganz abgebrochen; er ist eher stecken geblieben, hat sie vergessen und sie auf einmal, gewissermaßen auf dem Höhepunkt, irgendwie in der Schwebe gelassen. Und so tastete, lief und kratzte seine Hand eine Zeit lang bloß von außen auf seiner Brust herum wie eine spärlich behaarte große Spinne oder, besser, ein kleineres Meeresungeheuer, das einen Spalt sucht, um ihm unter die Jacke zu schlüpfen. Er selbst sprach unterdessen noch immer, und auch das gewisse Lächeln war fortwährend auf seinem Gesicht. Das Ganze hat nur ein paar Sekunden gedauert, so ungefähr. Darauf hat der Polizist dem Gespräch mit auffallender Entschiedenheit sofort ein Ende bereitet, ja, soviel ich sah, war er sogar etwas ungehalten; und in der Tat, auch wenn ich das Ganze eigentlich nicht recht verstanden habe, so hatte das Verhalten des Mannes auf eine schwer bestimmbare Weise auch für mich einen etwas verdächtigen Anstrich.
An die anderen Gesichter und Vorkommnisse erinnere ich mich nicht mehr so recht. Und überhaupt, meine Beobachtungen wurden mit der Zeit immer weniger scharf. So viel kann ich noch sagen, dass der Polizist gegenüber uns Jungen nach wie vor sehr aufmerksam war. Mit den Erwachsenen war er allerdings, das fiel mir auf, irgendwie eine Nuance weniger herzlich. Doch bis zum Nachmittag schien auch er schon erschöpft. Da kam er schon oft ins Kühle, zu uns oder in sein Zimmer, ohne sich um die vorbeifahrenden Autobusse zu kümmern. Wie ich hörte, versuchte er es auch immer wieder mit dem Telefon, und manchmal meldete er auch das Resultat: «Noch immer nichts» – das aber doch schon fast mit offensichtlicher Unzufriedenheit auf dem Gesicht. Ich erinnere mich auch noch an einen anderen Moment. Es hatte sich noch vorher, etwas nach Mittag, zugetragen: Ein Kamerad hatte ihn besucht, ein anderer Polizist, mit einem Fahrrad. Das hatte er zuvor hier draußen an die Wand gelehnt. Dann haben sie sich im Zimmer unseres Polizisten vorsorglich eingeschlossen. Sie kamen erst nach ziemlich langer Zeit wieder heraus. Zum Abschied schüttelten sie sich an der Tür lange und ausführlich die Hände. Sie sagten nichts, nickten aber und schauten sich dabei auf eine Art an, wie ich es früher, im Büro meines Vaters, manchmal bei Kaufleuten gesehen habe, wenn sie gerade die schweren Zeiten und den flauen Gang der Geschäfte erörtert hatten. Es war mir natürlich schon klar, dass das nicht sehr wahrscheinlich ist unter Polizisten, aber ihre Gesichter haben in mir eben doch diese Erinnerung aufkommen lassen: die gleiche bekannte, einigermaßen sorgenvolle Unlust und das gleiche erzwungene Sichabfinden mit, ja, sagen wir, mit dem unabänderlichen Lauf der Dinge. Aber ich war allmählich schon recht müde; von der noch verbliebenen Zeit weiß ich nur noch, dass mir heiß war, dass ich mich langweilte und dass ich auch ein bisschen schläfrig war.
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