Während Old Jack mit seinen Truppen den Nordsektor der Front besetzte, war Charles voll damit beschäftigt, Stuart und den anderen Außenposten Befehle zu überbringen. Als er später vor dem Hauptquartier Ab begegnete, erklärte ihm der andere Scout: »Es heißt, die Linien steh’n sich so dicht gegenüber, daß die eine Seite es riechen kann, wenn auf der anderen Seite einer furzt.«
Es hatte gelegentliche Scharmützel gegeben und während der Dämmerung ein schweres Bombardement. In der Dunkelheit ertönte dann nur noch ab und zu ein Ruf oder ein Schuß. Vor Tagesanbruch begann es zu nieseln; als der Morgen aufdämmerte, brach die Hölle los.
17. September. Die blauen Wellen stürmten frühzeitig aus den Wäldern. Zuerst eine Doppelreihe, dann die Hauptstreitmacht, feuernd und ladend, feuernd und ladend – so kamen sie näher und näher. Ein Südstaatensoldat schrie: »Joe Hooker!«
Joe Hooker, ein gutaussehender Teufelskerl, setzte zwei Corps der Union wie einen Hammer gegen die linke Flanke der Konföderierten ein. Die Yankee-Fußtruppen stießen durch die Kornfelder vor, die Köpfe gesenkt, als wollten sie einem Regenguß ausweichen.
Die Kämpfe begannen um sechs; die Fronten wechselten so schnell, und die Schlacht war derart gewaltig, daß Charles nur einzelne Fäden davon mitbekam, niemals das ganze Muster.
Vom Nicodemus Hill zurückreitend, den Kopf gesenkt, den Revolver in der Hand, geriet er in einen wütenden Angriff der Bundestruppen gegen Old Jacks Männer, die sich zwischen den Bäumen auf den Felskämmen verschanzt hatten. Ein Colonel, der mehrere Offiziere verloren hatte, beorderte Charles mit gezogenem Revolver vom Pferd und brüllte: »Halten Sie diese Position um jeden Preis.«
Also kämpfte er fünfzehn unglaubliche Minuten lang mit den Fußtruppen, schoß auf Yankees, die über die Straße gestürmt kamen, mit immer heller glänzenden Bajonetten, als die Sonne den Dunst auflöste und warmes, heiteres Licht über das Schlachtfeld warf.
Inmitten von Old Jacks Männern feuerte Charles, lud nach, brüllte, trieb die Männer an – half mit, den Angriff zurückzuwerfen, der die Yankees in weniger als einer halben Stunde fast fünftausend Mann kostete. Als die triumphierenden Fußtruppen brüllend zum Gegenangriff auf das Kornfeld ansetzten, rannte Charles, in dem Gefühl, dem unbekannten Colonel gegenüber seine Pflicht erfüllt zu haben, zurück, band Sport los und machte sich, immer noch vor Erregung zitternd, wieder auf den Weg.
Gegen elf hatte sich das Zentrum der Schlacht auf eine verfallene Straße etwas südöstlich von dem Kornfeld verlagert, durch das Charles zu der Zeit gerade ritt. In den letzten drei Stunden waren mindestens ein Dutzend Angriffe hin und her gewogt; von den gestern noch so stolz erhobenen Halmen war nichts mehr zu sehen.
Er hatte das Gefühl, in irgendein dämonisches Kaleidoskop zu starren: jede gräßliche Szene eine neue Variation des Horrors. Bei dem Anblick spürte Charles, wie ihm seine Selbstkontrolle entglitt. Immer heftiger umklammerten seine Hände die Zügel. Während der Himmel explodierte und er instinktiv den Kopf einzog, dachte er an ein Gesicht. An einen Namen. Hielt sich an beiden wie an einem Rettungsanker fest.
Der Impuls, abzusteigen und sich zu verstecken, war stark. Es ging vorüber, und er hielt weiterhin auf die verfallene Straße zu, wo Old Bobs Offiziere und Männer nicht nur um die Rettung der Armee, sondern vielleicht auch der ganzen Konföderation kämpften.
Charles spornte Sport an. Er war ein Mann, der in einem endlosen, zerstörerischen Meer trieb. Keine gerechte Sache konnte sein Leben retten; kein Slogan. Nur Erinnerungsfetzen.
Name.
Gesicht –
Sie.
Nahe der umgepflügten Straße war er unter lauter Wahnsinnigen – graue Soldaten in ihrer ersten Schlacht, die vor Angst Amok liefen. Er beobachtete, wie einer seine Feldflasche wegwarf; ein anderer stopfte zwei, drei, vier Kugeln in seine Gewehrmündung, ohne zu zählen, ohne es zu bemerken; ein Dritter stand mit geballten Fäusten da und schrie wie ein verlassenes Kind. Ein Granatsplitter schnitt sein linkes Bein und seinen Schrei mit einem sauberen Schlag ab. Blut spritzte wie der vorangegangene Regen auf den Boden.
»Steh auf, steh auf, verdammt!«
Der da brüllte, war ein rotgesichtiger, rotbärtiger Lieutenant, der nach einem gestürzten Pferd trat. Die Männer des Lieutenants duckten sich um eine Blakely-Kanone, die in einer Wagenspur festhing. Charles glitt aus dem Sattel, schlang den Zügel um einen Stein, rannte vor und stieß den hysterischen Offizier mit beiden Händen weg.
»Schluß. Das Pferd kann nichts mehr ziehen. Das Bein ist gebrochen.«
»Aber – aber – die Kanone wird oben an der Straße gebraucht. Ich habe Befehl, sie zur Straße zu bringen.« Der Lieutenant weinte jetzt.
»Beiseite, ihr Männer«, Charles hob die Hand, »schneidet die Stränge durch. Wir ziehen vorn an der Deichsel. Ein paar von euch schieben an jedem Rad. Einer paßt auf mein Pferd auf.«
Die Kugeln summten so dicht wie Bienenschwärme, Granatexplosionen schleuderten Schrapnelle durch die Gegend, aber sie zerrten fluchend und schwitzend die kleine Feldkanone voran, bis sie auf einen Major trafen, der sie mit gezogenem Säbel grüßte. »Gut, Jungs. Rollt sie dorthin.«
»Der Captain hat das geschafft«, sagte einer der Artilleristen. »Unser Lieutenant hat sich die Hosen voll gemacht.«
»Wer sind Sie, Captain?« fragte der Major.
»Charles Main, Sir. Scout bei Hamptons Brigade.«
»Ich werde Sie lobend erwähnen, falls einer von uns den Tag überleben sollte.«
Charles rannte geduckt über das Feld zurück zu dem Soldaten, der Sport bewachte. Der bärtige Lieutenant saß auf dem Boden neben dem lahmen Pferd. Charles erlöste das Tier mit einer Kugel. Der Lieutenant starrte ihn mit nassen Augen an, als wünschte er sich dieselbe Gnade.
»Los, Sport«, flüsterte Charles mit rauher Stimme. Er mußte zurück zum Hauptquartier.
Es war ein hartes Stück Arbeit. Hinter einer Rauchwand verborgen kanonierte die Bundes-Artillerie von den Anhöhen jenseits des Flusses. Charles bekam den Mann nie zu Gesicht, der auf ihn schoß. Etwas schlug gegen seine Brust, es riß ihn seitlich herum, und er wäre beinahe aus dem Sattel gestürzt.
Verwirrt schaute er an sich herunter und entdeckte ein rundes Loch links neben seinem Hemdknopf. Er öffnete das Hemd und holte den Lederbeutel hervor. Auch darin war ein Loch, wenn auch nicht durchgehend. Eine tödliche Kugel hatte ihn getroffen und war von dem Buch aufgehalten worden.
Er geriet in Andersons Brigade, die in dem Versuch, die Stellung zu halten, an die Straße geworfen wurde. Gegen den Strom der Männer kam er nur langsam voran. Was allmählich eine dauerhafte Veränderung in ihm auslöste, war nicht der einzelne Tod, den er oft genug gesehen hatte, sondern die überwältigende Multiplikation des Todes. Leichen türmten sich aufeinander. Ein Mann hatte keinen Kopf mehr; Fliegen krochen auf dem fleischigen Stumpf herum. Körper hingen mit dem Bauch nach unten über Farmzäunen.
Rauch hüllte ihn ein. Sport bäumte sich auf, wieherte zum erstenmal an diesem Morgen. Plötzlich erspähte Charles in dem geröteten Gras zu seiner Rechten einen gefallenen Mann, der ihm bekannt erschien. Der Mann lag still da, das Gesicht in seinem breitkrempigen Hut verborgen.
Zitternd stieg Charles ab. »Doan?«
Der Scout rührte sich nicht. Auf beiden Seiten der Straße lagen verstreute Körper, aber Doans Pferd war nirgendwo zu sehen. »Doan?« Diesmal sagte er es sanft, als wüßte er bereits, was er vorfinden würde, wenn er den Scout umdrehte.
Es war schlimmer als erwartet. Eine Kugel hatte Doans linke Gesichtshälfte weggerissen; sein ganzes Gesicht tropfte, als Charles den Kopf anhob. Blut lief aus den Augen und den Nasenlöchern über Zunge und Zähne. Der ganze Hut war voll davon. Doan war in seinem eigenen Blut ertrunken.
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