Regen klatschte gegen die Bürofenster; zu Mittag schien es bereits zu dämmern. An die emsige Produktion bei Lashbrooks denkend, nickte Stanley heftig. »Ich stimme voll mit Ihnen überein, Sir.«
»Minister Seward war früher für die Sicherheit der Regierung verantwortlich.« Es war Legende, wie Seward diesen Pflichten nachgekommen war; er prahlte damit, daß er nur mit der kleinen Handglocke auf seinem Schreibtisch zu läuten brauchte, um jeden Mann jederzeit für beliebig lange hinter Gittern verschwinden zu lassen. »Aber ich führe nun das Kommando.«
Stanley überlegte, weshalb der Minister derartige Selbstverständlichkeiten von sich gab. Stanley verschränkte seine plumpen Hände auf dem Schreibtisch. »Ich brauche einen Stellvertreter, dem ich vertrauen kann. Einer, der mit ganzer Kraft meine Politik vertritt und meine speziellen Befehle schnell und ohne zu zögern ausführt.«
Stanley umklammerte den Besucherstuhl, um sich zu beruhigen. Die Machtmöglichkeiten, die Stanton da mit einem Satz vor ihm ausgebreitet hatte, waren überwältigend.
»Wir müssen den Sicherheitsbereich vollkommen umorganisieren und streng gegen die Feinde in unserem eigenen Lager vorgehen.«
»Zweifellos, Sir. Aber ich frage mich, wie leicht dieses Ziel erreicht werden kann. Die Habeas-Corpus-Sache hat einen Sturm der Entrüstung wegen Verletzung der Verfassungsrechte erzeugt.«
Stantons Mundwinkel schnellten nach oben, ein Hohnlächeln. Stanleys Knie zitterten. Er hatte den Minister verärgert anstatt wie erhofft bewiesen, daß er die Situation erfaßt hatte.
»Ist das Land für die Verfassung erschaffen worden, Stanley? Ich glaube nicht. Eher wohl das Gegenteil. Ich kenne jedoch die verdrehten Ansichten unserer Feinde. Wenn das Land in Schutt und Asche sinkt, dann werden sie es sicherlich ungemein tröstlich finden, daß die Verfassung unangetastet geblieben ist.«
Schnell beugte sich Stanley vor. »Solche Leute sind nicht nur fehlgeleitet, sie sind gefährlich. Mehr wollte ich damit nicht zum Ausdruck bringen, Sir.«
Stanton lehnte sich, seinen Bart streichend, zurück. »Gut. Einen Moment lang glaubte ich, ich hätte sie falsch eingeschätzt. Sie haben mir loyal gedient, und absolute Loyalität ist eine Voraussetzung für den Job, den ich anzubieten habe. Ich benötige einen Mann, der diskret, aber unerbittlich unsere Feinde zum Schweigen bringt – und dafür sorgt, daß dieses Amt nicht damit belastet wird.«
»Das kann ich einrichten, Sir. Ich kann alles tun, was Sie verlangen, und ich werde es auch tun.«
»Ausgezeichnet«, murmelte Stanton. Dann blinzelte er verschlagen über seine runde Brille. »Ich würde meinen, Sie verfügen immer noch über genügend Zeit, Fußbekleidung an die Armee zu verkaufen, wenn Sie Ihren neuen Pflichten wirkungsvoll nachgehen.«
Stanley saß still, wagte nicht zu antworten.
Das Gemurmel des Ministers dauerte noch weitere fünfzehn Minuten, dann übergab er Stanley eine Mappe mit seinem vertraulichen Plan, wie der Polizeiarm des Kriegsministeriums zu stärken sei. Auf Stantons Anregung hin blätterte Stanley das halbe Dutzend Seiten durch, wobei er der philosophischen Einleitung besondere Aufmerksamkeit widmete.
»Diese Aussage zu Beginn ist genau richtig, Sir. Wir müssen die Zügel straffen. Das wird sogar noch bedeutsamer werden, wenn der Präsident seinen Plan durchführt, die Nig… die Schwarzen in den Rebellenstaaten zu befreien.«
Stanleys Hand schloß sich um die Mappe – sein Schlüssel zu erweiterter Autorität und Macht. Der Minister hatte es sehr deutlich gemacht. Er wünschte keinen brillanten Denker, sondern einen gehorsamen Soldaten.
Nachdem sie die Gegend um Frederick, Maryland, ausgekundschaftet hatten, kehrten Charles und Ab zurück nach White’s Ford am Potomac. Es war der 4. September; der Herbst stand vor der Tür.
Die Scouts, beide wie Farmer gekleidet, trabten langsam eine von Fahrrillen durchzogene Straße zwischen steilen, baumbestandenen Hügeln entlang. Die Blätter waren noch grün, aber Charles war bereits von der Melancholie der kommenden Jahreszeit angesteckt. Trotz seiner Aversion gegen das Schreiben hatte er in den letzten Monaten drei Briefe nach Barclays Farm geschickt und keine Antwort erhalten. Er hoffte, daß dies nur ein weiteres Beispiel für die Unzuverlässigkeit der Armeepost war und kein Anzeichen dafür, daß Gus ihn vergessen hatte.
Gestern hatten sie sich direkt nach Frederick hineingewagt – zwei unangenehme Stunden für Charles, da er wegen seines Akzentes stumm bleiben und Ab das Reden überlassen mußte. Eine Weile trieb er sich auf eigene Faust in der Stadt herum; er sprach mit niemandem und erregte so auch keinen Verdacht. Ab besuchte einen Saloon und kam mit beunruhigenden Nachrichten zurück.
»Charlie, sie sind verflucht noch mal kein bißchen daran interessiert, befreit zu werden. Glaubst du, Bob Lee hat falsche Informationen bekommen? Mir hat man gesagt, wir könnten mit einem großen Aufstand der Einheimischen rechnen, die uns zu Hilfe kommen würden, wenn wir in diesen Staat einmarschieren.«
»Mir hat man das gleiche gesagt.«
»Na ja, die meisten Kerle in dieser Kneipe taten so, als wär’s ihnen vollkommen egal, ob ich aus der Hölle oder aus Huntsville komme. Ich wurde ein bißchen angestarrt, bekam eine Einladung zum Kartenspiel, kaufte mir selber ein Glas Whiskey und konnte ‘ne Menge Rücken betrachten. Die Leute hier, die werden sich einen Furz um uns scheren.«
Charles runzelte die Stirn. Hatte sich die Armee wieder mal verschätzt? Wenn ja, dann war es bereits zu spät; der Vormarsch war schon im Gang. Mr. Davis und die Generale schienen sich über den Status von Maryland nicht einig zu sein. Der Präsident beharrte darauf, daß der Staat zum Süden gehöre und sie als Befreier kommen würden – eine Beurteilung, der Abs Report widersprach.
Wie immer auch die richtige Antwort lauten mochte, sie hatten jedenfalls ihre Mission beendet. Sie hatten hinter Frederick in einem abgelegenen Wäldchen übernachtet, mit ihren Schrotflinten überm Bauch und um die Handgelenke gewickelten Leinen.
Jetzt sagte Ab: »Kann ich dich was fragen, Charlie?«
»Nur zu.«
»Hast du ein Mädchen? Bin neugierig, weil du nie was sagst.«
Er dachte an Private Gervais und Miss Sally Mills. »Das ist die falsche Zeit und der falsche Ort, um ein Mädchen zu haben.«
Der andere Scout lachte. »Das stimmt weiß Gott, aber es beantwortet meine Frage nicht. Hast du eins?«
Charles schob seinen dreckigen Filzhut in die Stirn und beobachtete die Straße. »Nein.«
Es war eine ehrliche Antwort. Er hatte kein Mädchen, außer in seiner Phantasie. Wenn man ein Mädchen hat, dann schreibt sie einem auch. Gus hatte ihn geküßt, aber was bedeutete das? Eine Menge Frauen verschenkten ihre Küsse wie selbstgebackenen Kuchen.
Die Gegend veränderte sich schnell. Die Hügel wurden höher, steiler. In den wenigen Lichtungen tauchten keine Hütten mehr auf. Charles vermutete, daß sie nahe am Fluß waren, und hörte kurz darauf zur Bestätigung die fernen Geräusche – der Lärm einer Armee von fünfundfünfzigtausend Männern, die Virginia auf dem Weg durch die Furt verließen. Wenn Little Mac von der Invasion Wind bekam, dann würden die Yanks sich aus Washington herauswagen und kämpfen.
Sie erreichten den Fluß rechtzeitig, um die sich nähernde Kavallerie beobachten zu können – fünftausend Pferde, behauptete Ab, einschließlich neuer Brigaden mit alten Kameraden. Sein alter Freund Beauty Stuart war Generalmajor der Division – und noch keine dreißig. Hampton war sein Senior-Brigadier, Fitz Lee sein Junior. Charles’ alter Freund hatte schnell Karriere gemacht; in fünfzehn Monaten vom Lieutenant zum General.
Ab stieß einen Schrei aus, als er Hamptons Männer auf der Virginiaseite erspähte. Zu der Brigade gehörte die neu aufgestellte Second South Carolina Kavallerie, die mit den vier ursprünglichen Truppen der Legion als Kern gebildet worden war. Calbraith Butler war Colonel des Regiments. Er sah die beiden Scouts auf ihren im Flachwasser stehenden Pferden hocken und grüßte sie mit einem Winken seiner silberbeschlagenen Peitsche. Neben Butler ritt sein Stellvertreter, Hamptons jüngerer Bruder Frank.
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