Den ganzen Tag über herrschte ein Wirrwarr an Stimmen und ein Gewusel an Menschen außerhalb und innerhalb der Mauern der Stadt. Sie trieben sich in den großen Straßen wie der Bäcker-, der Oster- und der Baustraße herum, bevölkerten aber auch die kleineren, ärmlichen Mauergassen. Die Türme zweier Kirchen prägten das Bild der Stadt. Zum einen war da die hohe, spitze Kirche, welche unmittelbar neben dem Hause der Herrin stand, zum anderen gab es da dieses breite, imposantere Gotteshaus am anderen Ende der Bäckerstraße – Münsterkirche genannt. Dieser südliche Bereich der Stadt faszinierte Johanna besonders, da er so anders war. Auch hier herrschte ein geschäftiges Treiben, jedoch bemerkte sie rasch, dass die Menschen, die hier lebten, sich von denen im anderen Teil der Stadt unterschieden. Hier begegnete man auf Schritt und Tritt Männern und Frauen in Ordensgewändern, teils prächtig, teils ärmlich – doch allesamt dienten sie offenbar der Kirche, um welche sich hier im Süden alles zu drehen schien.
Es dauerte eine Zeit, bis Johanna sich an die Hektik und vor allem an den Lärm gewöhnt hatte, welcher erst zu später Stunde ausklang, wenn die Tore geschlossen wurden und der Nachtwächter, sein Ruhelied singend, durch die Gassen wanderte. Oft lag sie dann noch hellwach in ihrem sauberen, nach Harz und Gewürzen riechenden Kämmerlein und konnte ob der vielen, vielen Eindrücke kein Auge zubekommen.
Langsam begann sie sich tatsächlich wohlzufühlen in dieser neuen Welt. Fern von ihrem Dorf, fern von ihrer Vergangenheit und fern von ihren Geheimnissen, die hier niemanden interessierten, denn niemand interessierte sich für Johanna – und das war gut so.
Sie wollte vergessen, nicht mehr an ihr früheres Leben denken. Nicht an ihre traurige, kurze Ehezeit, nicht an ihr totes Kind, nicht an den wollüstigen Ritter Eicheck, nicht an den lieben, kleinen Heinrich und erst recht nicht an das schreckliche Wiedersehen mit Philipp. Doch ausgerechnet an diesen musste sie immer und immer wieder denken. Die Erinnerungen an ihn, alte wie neue, waren in ihrem Kopf so eingebrannt, dass sie oft, tagsüber wie nachts, von ihnen übermannt wurde. Ertappte sie sich dabei, dann verbot sie sich diese Gedanken und versuchte, sich allein auf ihr neues Leben zu konzentrieren, das Leben einer Frau, die sich nun mehr als glücklich schätzen konnte, ein neues, sorgenfreies Dasein als Magd einer betuchten Gewürzhändlerin führen zu dürfen. Was kümmerte sie also das Vergangene? Was kümmerte sie dieser verschwunden geglaubte Junge, der nun als Mann zurückgekehrt war? Was kümmerte sie ihre eigene Schuld an dem, was er einst getan hatte?
Johanna gelang es nach und nach immer besser, die Vergangenheit zu vergessen. Und das lag vor allem an dem Schutz dieses großen, sauberen, reichen Hauses, in dem sie nun lebte. Wie behaglich war es doch, so friedlich nach getaner Arbeit in seinem Bett zu liegen und die Ruhe zu genießen. Niemand pochte grob an ihre Türe, keine schmutzigen Hände griffen nach ihr, kein Kind jammerte des Nachts nach Liebe und Milch. Auch wenn Johanna am Tage hart arbeiten musste, so hatte sie doch wenigstens die Nacht ganz für sich, und sie mochte es gern, in der Dunkelheit den schlurfenden Schritten und dem Summen des Nachtwächters zu lauschen, wenn er einmal wieder bei seinem Gang durch die Stadt das Haus der Margarethe Gänslein passierte.
Auch die Kaufmannswitwe war des Nachts häufig noch wach. Anders als die übrigen Hausbewohner, nutzte Margarethe die Nacht nicht zum Ruhen. Bis in die frühen Morgenstunden saß sie oft in ihrer Schreibstube, um Rechnungsbücher und Wechsel zu prüfen sowie Aufträge an ihre Kontorgenossen in ganz Europa zu schreiben.
»Er tröstet die Seelen, welche nicht zur Ruhe finden, durch seinen frommen Gesang«, sprach Margarethe leise vor sich hin, während sie in ihrer Arbeit innehielt, um ebenfalls dem Singen des Nachtwächters zu lauschen.
Es verging kaum eine Nacht, in der sie diese Worte nicht sprach, es verging aber auch kaum eine Nacht, in der sie nicht bitter darüber schmunzeln musste.
Trost – das war ein Wort, an welches sie gar nicht denken wollte.
Glück wäre ihr sehr viel lieber.
Und nicht etwa das Glück, welches ihr seit Jahren in ihrer Tätigkeit als Kauffrau hold war. Nein, Margarethe sehnte sich nach einer anderen Form von Glück, nach dem Glück, welches man schlicht als Zufriedenheit bezeichnen konnte.
Nach dem plötzlichen Tode ihres Mannes hatte man sie nicht trösten müssen, sie hatte sich schon Jahre zuvor darauf eingestellt gehabt, dass ihre gemeinsame Zeit kurz bemessen war. Reinold war von kränklicher Natur und unstetem Geist gewesen, eine Kombination, welche einen Menschen höchst selten das Greisenalter erreichen lässt. Obwohl er sich längst auf die Arbeit gut organisierter Handelsgesellschaften hätte verlassen können und es nicht mehr notwendig gewesen wäre, als Fernhändler selbst auf Reisen zu gehen, so hatte er es dennoch Jahr für Jahr getan. Unzählige Male hatte er Italien bereist, war gar in Konstantinopel gewesen und selbst im Heiligen Land. All diese Fahrten hatte er zu seinem wirtschaftlichen Nutzen betrieben und sie gleichzeitig damit verbunden, für sein Seelenheil zu sorgen. Einen großen Teil seines Gewinns hatte er in Reliquien investiert, er hatte kaum eine Wallfahrt ausgelassen und verfügte über einen enormen Stapel an Ablassbriefen. Wertloses Papier, dessen unbedruckte Rückseiten Margarethe längst benutzte, um sich darauf geschäftliche Notizen zu machen.
Er war zeit seines Lebens ein Getriebener gewesen, ein Jäger und Sammler, ohne selbst zu wissen, warum er nicht genoss, was er erjagte, und nur stapelte, was er sammelte. Als er starb, hinterließ er ein Vermögen, und auch was sein erkauftes Seelenheil betraf, hätte er sich, den Lehren der Ablassprediger zufolge, keine Sorgen machen müssen. Ja, er hätte, wie der berühmte Johann Tetzel zu sagen pflegte, selbst der Mutter Gottes ein Leid antun können, und dennoch hätten dem Kaufmann Reinold Gänslein die Pforten zum Himmelreich weit offen gestanden. Doch nichts war ihm jemals genug gewesen, und so war er, als ihn eine einfache Erkältung nach und nach dahinraffte und er Tage und Nächte in seinem elenden Zustande damit verbrachte, zusammen mit einem Mönch zu beten, schließlich mit einer entsetzlichen Angst in den Augen gestorben.
Und diese Angst hatte daher gerührt, dass er sich eines in seinem erfolgreichen Leben niemals hatte kaufen können: Seelenfrieden.
Margarethe wollte es anders machen. Als sie die Geschäfte übernahm, war es für sie unausweichlich gewesen, neue Handelskontakte aufzubauen und Gesellschaftern, Fuhrleuten sowie Unterkäufern blind zu vertrauen, auch wenn dies in ihrer Unerfahrenheit zunächst zu zahlreichen Verlustgeschäften geführt hatte. Es war schon ungewöhnlich genug, dass sie als Frau die Fernhandelsgeschäfte ihres Mannes weiterführte, aber als Kauffrau allein in der Weltgeschichte herumzureisen, das wäre des Ungewöhnlichen zu viel gewesen und hätte sich für eine trauernde Witwe wahrlich nicht geziemt. Sie hatte schon zu Lebzeiten Reinolds alle schriftlichen Aufgaben übernommen und wusste, trotz ihrer adeligen Erziehung nach höfischer, ritterlicher Kultur, sehr bald einen äußerst vernünftigen, bürgerlichen Sinn fürs Geschäftliche zu entwickeln. Ihre bescheidenen Lateinkenntnisse hatte sie ausgebaut und dazu genutzt, Italienisch zu lernen, um selbst mit venezianischen Händlern zu kommunizieren. Überall auf dem Kontinent besaß sie mittlerweile Bekannte und Informanten, welche die Hamelner Witwe in allen Entwicklungen des Gewürzhandels in schriftlicher Form auf dem Laufenden hielten. Dies geschah nicht ohne Eigennutz, man ließ sich bezahlen; und häufig war Margarethe auch übelst betrogen und hinters Licht geführt worden. Doch diese Niederlagen wogen nur gering im Vergleich zu dem Zeitverlust, den sich Reinold durch sein monatelanges Fernbleiben erlaubt hatte, und zu der Tatsache, dass es ihm aufgrund seines Dranges, alles selbst in die Hand zu nehmen, niemals gelungen war, seine Waren gleichzeitig aus verschiedenen Quellen zu beziehen. Margarethe trieb von ihrem Schreibtisch aus den Handel nicht nur über die immer träger werdende Hanse, nein, sie bezog ihr Handelsgut mitunter unmittelbar aus Venedig, Antwerpen und jüngst sogar aus Lissabon. Die Portugiesen waren die neuen Herren der Ozeane, denn sie hatten in den letzten Jahrzehnten bis dato unbekannte Seewege entdeckt und waren, anders als die Venezianer, nicht auf den Zwischenhandel mit syrischen Karawanenführern angewiesen, sondern deckten sich unmittelbar vor Ort in Indien und Afrika mit Gewürzen ein, was sich in einem sehr viel günstigeren Weiterverkaufspreis niederschlug.
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