Nun fand sie ihre Base Mechthild allein, ohne ihren täglichen Gast Regine.
»Warst du wieder beim Bürgermeister? Ich habe dich über den Markt laufen sehen«, wollte Mechthild wissen. Sie wirkte heute ausgesprochen bedächtig, offenbar hatte sie sich wieder einmal innige Gedanken über Gott und die Welt gemacht oder aber zu viel vom Branntwein genascht. Danach hatte sie stets diesen seligen Gesichtsausdruck.
»Es hat keinen Sinn. Ich werde deinem Sohn mein gesamtes Vermögen und alle Geschäfte überschreiben müssen. Eine Schande nur, dass man ihn nun so lange Zeit nicht wird erreichen können.«
»Fluche nicht, Grete. Du selbst hast ihm diese Flausen in den Kopf gesetzt. Ich vergehe nahezu vor Sorge um ihn. Ein Kind ist er noch, und nun so ganz allein in einer völlig fremden Welt! Der Hölle soll dieses neue Land gleichkommen, und höllenartige Wesen treiben sich dort herum. Menschenfresser gar.«
Die Base ging gar nicht darauf ein, dass Margarethe soeben angekündigt hatte, den Neffen, Mechthilds eigen Fleisch und Blut, zum Alleinerben zu ernennen. Aber gerade diese Eigenschaft schätzte sie so sehr an Mechthild: Sie war ganz und gar uneigennützig, ihr fehlte jeglicher Ehrgeiz – und das im positiven Sinne. Ein neues Rätselbuch, ein Fläschchen Weihwasser, ein heimlicher Schluck Branntwein, und die Gute war glücklich.
»Ich muss mir etwas einfallen lassen, sonst steht hier noch heute ein grinsender Affe vor der Türe, der sich als mein neuer Vormund ausgibt. Fast bin ich versucht, es diesen Ratsherren heimzuzahlen und Vestiarius zu meinem neuen Bettelvogt zu machen.«
»Das würde mich sehr freuen, und es käme auch dir zugute, liebe Margarethe«, antwortete Mechthild mit andächtiger Miene.
»Warum das?«
»Nun, du tust herzlich wenig für dein Seelenheil und das Seelenheil deiner Lieben. Würde ich nicht wöchentlich wenigstens eine Kerze spenden, um die Zeit deines Vaters und deines Gatten im Fegefeuer zu verkürzen, dann müssten die Armen sicherlich noch in tausend Jahren dort elendig leiden.«
»Wer weiß denn, ob alle Seelen im Fegefeuer losgekauft werden wollen? Beim heiligen Severin und beim heiligen Paschalis soll das beispielsweise nicht der Fall gewesen sein.«
»Margarethe!« Mechthild schrie empört auf und ließ vor Schreck ihre Stickerei fallen.
»Das stammt nicht von mir. Das ist eine der Thesen Martin Luthers. Die dreißigste, wenn du es genau wissen willst«, lachte Margarethe.
»Umso schlimmer.«
Empört erhob sich Mechthild, ging eilig zu einer kleinen, vergoldeten Schale, die an der Wand neben der Zimmertür angebracht war, griff dort hinein und kam dann schnellen Schrittes und mit feuchten Fingern auf Margarethe zugeeilt, um sie zügig mit Weihwasser zu besprenkeln.
Margarethe lachte noch immer.
»Es hat keinen Zweck, liebe Mechthild. Entscheidungen, die mit dem Verstande getroffen werden müssen, sollte ich besser alleine fällen. Und um das Seelenheil meines Gatten und meines Vaters brauchst du dich wahrlich nicht zu sorgen. Spende das Geld für die Kerzen lieber den verkrüppelten Armen und Waisen, die vor der Kirche auf ein Almosen warten.«
Sie hob die Stickereien der Base auf und geleitete diese zurück zu ihrem Platz am Fenster, von dem sie einen kleinen Ausguck öffnete, um frische Luft einzulassen.
»Schau nur, Mechthild, da gibt es ein Spektakel. Wen führt der Carnifex denn da zum Pranger? Sieht ganz so aus, als sei das wieder einmal Bäckermeister Köbel. Das kommt davon, wenn man zu kleine Brötchen backt.«
Und mit dem guten Gewissen, ihre Schwägerin wohlbeschäftigt zurückzulassen, verließ Margarethe den Raum, um sich endlich in ihre Schreibstube zu begeben, in welcher sie ihren Secretarius Bennheim schon allzu lange allein und unbeaufsichtigt gelassen hatte.
V
So schnell sieht man sich wieder.«
Johanna erschrak. Sie erschrak, obwohl sie den Mann bereits wahrgenommen hatte, als sie, aus einer engen Gasse kommend, den großen Marktplatz betreten hatte. Vergeblich hatte sie versucht, unbemerkt an ihm vorüberzuhuschen, während er mit den letzten Handgriffen der ihm zugedachten Aufgabe beschäftigt gewesen war.
Doch nun steckten Kopf und Hände des zappelnden, dünnen Männleins im Pranger, ein Amtsdiener hatte das Urteil verlesen, und die kleinen Rachehandlungen der Bürger der Stadt Hameln an dem betrügerischen Bäcker Köbel konnten ihren Anfang nehmen. Der Henker Justus Carnifex hatte seine unblutige Tätigkeit beendet und war nun offenbar so froh, das vertraute Gesicht der Frau aus dem Nobiskrug wiederzusehen, dass er seine Versprechung vom Vorabend ganz vergaß und ihr einfach mit lauter Stimme nachrief.
Nachdem sie kurz zusammengezuckt war, beschloss Johanna, sich gar nicht erst nach ihm umzuschauen. So dankbar sie ihm war, und obwohl er ein freundlicher Bursche zu sein schien, wollte – nein: konnte sie nichts mit diesem Kerl zu tun haben; nicht, nachdem sie erleichtert war, endlich die Stadt betreten zu dürfen und sich nun bei der Witwe Pfeffersack vorzustellen zu können. Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein schlechter Leumund, und den hätte sie sich allemal eingehandelt, wenn offensichtlich würde, dass es sich bei dem einzigen Hamelner Bekannten dieser jungen fremden Frau ausgerechnet um den Scharfrichter handelte.
Carnifex schien zu begreifen. Es war nicht das erste Mal, dass ihm dergleichen widerfuhr. Eigentlich hätte er längst einsehen müssen, dass nicht grundlos seit Generationen Henker nur Henkerstöchter ehelichten. Seine Mutter war die Tochter des Onkels seines Vaters gewesen, der wiederum aus einer Verbindung zweier Halbgeschwister stammte, denn in der unehrenhaften Tätigkeit des Kopfabschneiders, Abdeckers und Grubenaushebers blieb man nun einmal so sehr unter sich, dass sich die Henker in den umliegenden Städten sogar allesamt verteufelt ähnlich sahen.
Er blickte der Frau noch eine Weile hinterher, die tatsächlich, seinem Rat folgend, auf das Pfeffersäcksche Haus zusteuerte. Dann wandte er sich um und ging gesenkten Kopfes und, ohne auch nur von einer Menschenseele beachtet zu werden, zurück zu seinem bescheidenen Heim nahe dem Weserufer an der Fischpforte.
Margarethe Gänslein hatte soeben neben ihrem alten Secretarius Bennheim Platz genommen, um mit ihm die anstehenden Geschäfte durchzusprechen, als die Köchin Immeke verlegen in der Tür der Schreibstube stand, um der Herrin des Hauses mitzuteilen, dass eine junge Frau eingetroffen sei, die nach der freien Stelle als Dienstmagd frage.
»Kaum haben sie vom Weggang der armen Gerda gehört, da schlüpfen sie auch schon wie die Ratten aus den Löchern«, kommentierte Margarethe ein wenig gereizt, erhob sich aber dennoch, um einen Blick auf das Mädchen zu werfen.
Eine neue Magd war in diesem Hause dringend vonnöten. Selbst dann, wenn es Margarethe gelingen würde, Gerda zurückzuholen, gäbe es genügend für zwei weitere tüchtige Hände zu tun. Außerdem war es besser, die offene Stelle schnell wieder zu besetzen, bevor tatsächlich stündlich ein neues, dümmlich lächelndes Ding mit fragendem Blick vor ihrer Türe stand und die Kauffrau von der Arbeit abhielt.
»Wo ist sie?«, fragte sie, während sie bereits an Immeke vorüberrauschte.
»Sie wartet in der Diele.«
Zunächst hatte Johanna geglaubt, eine Kirche zu betreten, so weit und hoch war der Raum hinter dem großen Eingangstor, durch welches sie die freundliche Köchin hereingebeten hatte. Aber es war weniger die Größe der Diele als vielmehr der sie umnebelnde Duft, der die erstaunte Johanna an ein Gotteshaus erinnerte.
Weihrauch nahm sie wahr, das stand außer Frage. Aber da hingen noch Dutzende, vielleicht sogar Hunderte anderer herrlicher Düfte in der Luft, und die meisten von ihnen waren ihr noch nie zuvor in ihrem Leben in die Nase gestiegen. Teils herb und würzig, teils lieblich und süß zogen sie in unsichtbaren Schwaden durch den Raum und versetzten die junge Frau in nur kurzer Zeit in einen regelrechten Rausch.
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