»Ich bin Witwe.«
Er schmunzelte. Diese Antwort schien ihm zu gefallen.
»Kinderlein?«
Wollte er jetzt wieder unverschämt werden?
»Auch mein einziges Kind ist gestorben«, antwortete Johanna wahrheitsgemäß.
»Dann könnte wahrlich die Stadt die einzige Rettung aus Eurer trostlosen Lage sein. Mägde werden dort durchaus gesucht. Das ist eine gute Möglichkeit für anständige Weiber, in einem reichen Haushalt unterzukommen. Derlei Haushalte gibt es viele in Hameln.«
»Wisst Ihr etwa einen, in dem eine fleißige Hand fehlt?«
»Durchaus.«
»Wollt Ihr es mir sagen?«, bohrte Johanna weiter.
»Erst gestern musste ich Gerda Klinger vor die Tore führen, weil sie sich ein Kind hat machen lassen. Das darf einer Magd nicht passieren. Sie war bei der Witwe Pfeffersack beschäftigt, und die dürfte jetzt nach einem neuen Mädchen Ausschau halten. Oh, hat die geschimpft.« Und in Erinnerung an den gestrigen Tag klopfte er sich lachend auf die Schenkel.
»Wer, die Magd?«
»Nein, die Pfeffersack. Die wollte das lose Stück behalten. Hätte nichts dagegen gehabt, deren kleinen Bastard in ihrem Hause großzuziehen. Im Grunde ist sie nämlich ein guter Mensch. Aber was zu weit geht, geht zu weit.«
»Und was habt Ihr damit zu tun?«
Jetzt wurde er wieder stiller und spielte mit seinen Fingern verlegen an der Tischkante herum.
»Mein Name ist Justus Carnifex. Ich bin der Scharfrichter der Stadt Hameln.«
Johanna musste schlucken. Sie hatte sich tatsächlich mit einem Henker unterhalten. Das war eine Sünde, die es in jedem Fall zu beichten galt. Kein Wunder, dass sich ein unehrenhafter Geselle wie er in einer abgelegenen Spelunke wie dieser herumtrieb. Denn so wichtig seine Tätigkeit für das Fortbestehen von Sicherheit und Ordnung in einer Stadt auch war, so wenig wollte man mit diesen Leuten zu tun haben. Scharfrichter wurden gemieden, man sprach nicht mit ihnen, saß nicht mit ihnen an einem Tisch und ließ sie nach Möglichkeit erst recht nicht in sein Haus, denn das brachte mehr als Unglück: Es war eine Schande.
Dennoch beschloss Johanna, weiter mit ihm zu reden, denn das, was er da sagte, interessierte sie trotz aller Widrigkeiten ungemein.
»Was habt Ihr denn mit der schwangeren Magd gemacht?«
»Nichts. Fortgejagt habe ich sie. Das wurde mir aufgetragen, und was mir aufgetragen wird, das muss ich machen. Aber wie ich die kenne, lässt die sich den Balg von der nächstbesten Engelmacherin wegmachen und ist in der nächsten Woche wieder zurück in der Stadt.«
»Und ihr Platz bei der Frau Pfeffersack ist frei?«
»Ja, aber die heißt nicht Pfeffersack. So wird sie nur geschimpft. Gänslein ist ihr Name, und sie lebt im prächtigsten Haus am Pferdemarkt. Das werdet Ihr nicht verfehlen, wenn Ihr denn dort morgen vorsprechen wollt.«
»Habt vielen Dank für den Ratschlag.« Johanna lächelte etwas gequält. Sie fühlte sich mehr als unwohl, eine Empfehlung von einem Henker erhalten zu haben. Ein schlechtes Omen konnte das bedeuten. Dennoch beschloss sie, am morgigen Tage das Haus der Witwe Pfeffersack aufzusuchen. Schlechtes Omen hin oder her, sie musste nun einmal von etwas leben. Und besser, sie nahm den Rat eines Unehrlichen an, als dass sie sich letzten Endes gezwungen sah, selbst unehrlich zu werden, indem sie in ein Hurenhaus eintrat.
Während sie wieder nachdenklich auf die nun regungslose Schabe starrte, erhob sich der junge Mann von seinem Platz und ging zur Tür.
»Ich muss nun zurück in die Stadt. Ein wenig Schlaf sollte schon sein, bevor ich morgen in aller Früh die Jauchegrube des Bürgermeisters aushebe. Eine geruhsame Nacht wünsche ich Euch. Vielleicht sieht man sich eines Tages hinter den Mauern Hamelns wieder. Doch keine Sorge, gute Frau, ich werde Euch nicht böse sein, wenn Ihr dann so tut, als hätte es nie ein Gespräch zwischen uns gegeben.«
Er nickte höflich und verschwand dann in der stürmischen Dunkelheit.
IV
Es waren nur wenige Schritte, die Margarethe Gänslein von ihrem großen Kaufmannshaus hinüber zum Rathaus gehen musste, sie hatte sie seit gestern mehrere Male zurückgelegt – und jedes Mal vergeblich.
Beschwichtigt hatte man sie, und die Verantwortlichkeiten von einem zum anderen geschoben. Der Bürgermeister hatte sie zum zuständigen Ratsherrn Knipping verwiesen, welcher wiederum von gar nichts wusste und behauptete, allein der Vogt sei für derlei Kleinigkeiten zuständig. Dieser wiederum verweilte bereits seit mehr als einer Woche weit entfernt auf der Erichsburg bei seinem Herrn, dem Herzog von Calenberg, um ihn wieder einmal über das Treiben in der selbstbewussten Stadt Hameln zu unterrichten.
»Gute Frau Margarethe, wo kämen wir denn hin, wenn ein jeder für sich eine Sonderbehandlung in Anspruch nähme? Auch meine Magd würde der Stadt verwiesen, wäre sie nicht imstande, sich gebührlich zu betragen.«
Das waren die Worte des Bürgermeisters, als Margarethe an diesem Tag erneut in sein Amtszimmer gestürzt kam. Wohlgenährt und in eine schwarze Amtsrobe gekleidet, saß er behäbig hinter seinem mächtigen Pult und sprach langsam und dabei herablassend lächelnd auf sie ein. Ganz so, als habe er in Margarethe Gänslein eine Närrin vor sich.
»So, eine Sonderbehandlung nennt Ihr mein Ansinnen?«, erwiderte diese. »Nun, auch die Stadt Hameln erhielt von meinem verstorbenen Gemahl und selbst von meiner Wenigkeit durchaus die eine oder andere Sonderbehandlung. Ich erinnere nur an das Bedrängnis während der Stiftsfehde und das angebliche Wunder des Bonifatius, durch welches die Belagerer plötzlich zum Abzug bewogen wurden. Von wegen Wunder! Handsalben waren es, die man ihnen zahlte! Und wer trug dazu den Großteil bei? Niemand anders als mein Gemahl Reinold Gänslein. Ganz zu schweigen von den Steuern, die unser Handel Jahr für Jahr auf die Stadtwaage bringt.«
»Ich weiß, ich weiß!« Der Bürgermeister hob beschwichtigend beide Hände, um die aufgebrachte Frau wieder milde zu stimmen. »Aber dennoch, Frau Margarethe, die Jahre gehen ins Land, und noch immer stellt Ihr Euch stur. Die Zeiten des Überganges, in denen Ihr nach seinem Tode allein die Geschäfte Eures seligen Gatten übernommen habt, sind nun wahrlich vorüber. Hört auf, immerzu alleine hausen und mausen zu wollen. Ihr solltet wieder heiraten und Euch auf Eure Aufgaben als Hausfrau besinnen. Oder aber der Rat sieht sich gezwungen, einen Vormund für Euch zu bestimmen.«
»Ich benötige weder einen Ehemann noch einen Vormund. Ich will meine Magd zurück. Glaubt mir, ehrenwerter Herr, ich weiß, dass Ihr sie nur fortgejagt habt, um mich zu ärgern. Was kann denn das arme Ding dazu, dass ihre Herrin mit dem Rat der Stadt über Kreuze liegt?«
»Na, na, gute Frau Margarethe«, beschwichtigte der Bürgermeister aufs Neue. »So wollen wir das doch nicht ausdrücken. Die Stadt und sein Rat sind sehr stolz auf den verstorbenen Kaufmann Gänslein und achten den Geschäftssinn seiner Witwe sehr. Allein, wir machen uns Sorgen um Euren, nun sagen wir, Zustand. Mitunter seid Ihr aufbrausend, dann wieder besonnen, man erlebt Euch aufsässig oder aber betrübt. Eure Launen wechseln wie das Wetter im April. Und mich deucht, dass es allein daran liegt, dass Ihr Euch zu viel zumutet. Ihr benötigt eine starke, helfende Hand, Margarethe. Ihr braucht endlich einen Gemahl. Dann kommen auch Eure Säfte wieder in Einklang.«
Margarethe starrte ihn eine Weile stumm und mit offenem Mund an, dann sagte sie bissig: »Es muss mir entgangen sein, dass es sich bei Euch um einen studierten Medicus handelt, werter Herr Bürgermeister. Wenn Ihr Euch in den Gesetzen der Stadt auch nur halb so gut auskennen würdet wie im Bereich der Frauenleiden, dann wüsstet Ihr, dass Ihr mit dem Verweis meiner Magd Gerda in die Machtbefugnisse des Vogtes eingegriffen habt.«
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