Ein Nobiskrug.
Johanna wusste aus Erzählungen von derartigen Kaschemmen; sie selbst hatte nie eine betreten, denn in derlei Häusern ging es mitunter wild zu. Auf dem Hellweg, der uralten Handelsroute, die schon in heidnischen Zeiten von Aachen bis hin nach Königsberg geführt hatte, lagen zahlreiche dieser berüchtigten Absteigen. Und auch wenn niemand jemals dort ein und aus gegangen sein wollte, so waren dennoch ausgesprochen viele Erzählungen über die Räuberlöcher in Umlauf. Zu den Zeiten der Lepra, als neben Kaufleuten, Söldnern, Pilgern und Landstreichern auch Aussätzige auf dem Hellweg unterwegs waren, hatte es auf der Strecke Gasthäuser gegeben, die eigens der Aufnahme von Leprösen dienten. Nicht Erbarmen und Mitleid waren Anlass für die Wirtsleute gewesen, sich auf derartige Kundschaft zu spezialisieren, nein, das Ganze stellte durchaus ein lohnendes Geschäft dar. Denn groß war einst die Zahl derer, die an dieser Geißel Gottes erkrankt waren und verkrüppelt, zerlumpt und bettelnd durch die Lande streiften, um Almosen von ihren Mitmenschen zu erbitten und sie daran zu erinnern, dass Mildtätigkeit gegenüber den Armen Gott ein Wohlgefallen sei. Doch lange schon schien diese Plage nun ein Ende gefunden zu haben, kaum mehr wurde ein Mensch vom Aussatz befallen, die eigens am Rande der Städte errichteten Leprösenhäuser verwaisten oder änderten ihre Gestalt, indem sie zu Hospitälern oder aber zur Herberge für einsame Alte wurden. Und auch die berüchtigten, bis dato von Gesunden gemiedenen Nobiskrüge änderten ihre Gestalt. Gemieden wurden sie jedoch weiterhin, nicht etwa weil man befürchtete, sich dort eine unheilbare Krankheit einzufangen. Nein, man musste dort viel unmittelbarer mit dem Verlust seines Lebens rechnen, denn mit dem Schwinden der Siechen kamen die Räuber, Tunichtgute, Geächteten und Ehrlosen, welche die Leprosengasthöfe zu ihren angestammten Wirtshäusern machten. Den Wirten aber war dieser Wandel durchaus recht.
An einer derartigen Absteige war auch Johanna vorübergegangen, und dorthin zog es sie nun zurück, denn es war das einzige Haus weit und breit, in welches man zu dieser Stunde außerhalb der Stadtmauern noch eintreten konnte. Ihr blieb also nur die Wahl, sich in der nasskalten Nacht Schutz unter einem tropfenden Baum zu suchen oder aber die Gesellschaft unangenehmer Zeitgenossen zu ertragen. Sie entschied sich für Letzteres, auch wenn es sie schmerzte, ihr einziges Geld, die drei Münzen, die sie nur widerwillig von Hermann in Empfang genommen hatte, in einem Nobiskrug zu lassen.
Es war ein winziges, windschiefes, strohgedecktes Fachwerkhäuschen, das inmitten des Nichts, unweit eines dunklen Waldes, aber weit entfernt vom nächsten Dorf, die frierende Johanna empfing. Vorsichtig versuchte sie, einen Blick durch die Schweinsblase zu erhaschen, welche vor das einzige kleine Fenster der Kaschemme gespannt war. Doch alles, was Johanna durch die gelblich braune Haut ausmachen konnte, war, dass Licht in der Gaststube brannte. Laute hörte sie keine, kein Grölen, kein Singen, kein Spielen von Fideln oder Flöten. Es war ruhig in dem Nobiskrug, und das beruhigte auch Johanna, die sich nun ein Herz fasste, zur Tür ging und sie vorsichtig aufstieß.
Eine angenehm trockene, aber übel riechende Wärme schlug ihr entgegen, als sie eintrat. Der Raum war ganz und gar nicht groß, hätte aber gut und gerne Platz für drei Dutzend Menschen geboten. Und dass so viele hier mitunter verkehrten, konnte man durchaus wahrnehmen, denn es stank noch immer erbärmlich nach ungewaschenen menschlichen Leibern und nach allem, was diese so von sich gaben oder geben konnten. Am heutigen Abend jedoch waren die vielen Stammgäste bloß zu riechen, nicht aber zu sehen, denn außer Johanna hielten sich nur zwei weitere Personen in der Gaststube auf: eine alte, beleibte Frau, offenbar die Wirtin, welche dösend auf einem Hocker neben dem Ausschank saß, und ein junger Mann. Dieser saß gekrümmt so weit wie möglich entfernt von der Alten in der äußersten Ecke des Raumes hinter einem runden Tisch und blickte die eintretende Johanna aus traurigen Augen staunend an.
»Gut«, dachte diese bei sich und hockte sich auf dem nächstbesten Platz neben der Tür nieder. Eine Weile saß sie nur da und rührte sich nicht. Die Wirtin döste weiter, und der Mann starrte wieder in seinen Bierkrug. Johanna war es recht, sie wrang erneut ihren triefenden Umhang über dem auf dem Boden verteilten schmutzigen Stroh aus und hängte ihn schließlich über eine Stange, die in der Nähe der Kochstelle angebracht war. Dann begab sie sich zurück zu der Holzbank und hoffte, dass die Nacht bald ein Ende finden würde.
Es war mit Sicherheit eine geschlagene Stunde vergangen, die Wirtin hatte bereits zu schnarchen begonnen, als der junge Mann schließlich das Wort ergriff und Johanna, die es bislang nicht gewagt hatte, die Augen zu schließen, ansprach.
»Wollt Ihr etwa nichts trinken oder essen?«
Johanna zuckte zusammen, obwohl er eine durchaus angenehme, leise, ja nahezu schüchterne Stimme hatte. Eine Stimme, die ganz und gar nicht zu seinem kräftigen, grobschlächtigen Erscheinungsbild passte. Nie zuvor in ihrem Leben war sie derart höflich angesprochen worden.
»Vielen Dank. Aber ich möchte die Wirtin nicht wecken. Es langt mir, mich hier ein wenig aufzuwärmen und den Morgen zu erwarten.«
Zum ersten Mal schaute sie den anderen Gast nun genauer an. Er war auf den zweiten Blick ein gar nicht so übler Bursche. Trotz seiner jungen Jahre fiel ihm das Haar schon aus, und sein Gesicht war ein wenig zu rund, aber er hatte schöne, große blaue Augen, und sein verschämtes Lächeln offenbarte gesunde Zähne.
»Wohin zieht es Euch, wenn ich fragen darf?«
»Ich wollte in die Stadt Hameln gehen, aber die Tore waren bereits verschlossen.«
»Ihr wart noch nie zuvor in Hameln, nicht wahr?«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Nun, sonst wäre Euch bekannt, dass es zahlreiche Schlupflöcher gibt, um anderweitig in die Stadt zu gelangen.«
»Ach.« Johanna lächelte. Es schien ein freundlicher, harmloser Mensch zu sein, vor dem sie sich als einsame Frau nicht zu fürchten brauchte.
»Ich lebe in der Stadt und werde mich auch gleich wieder dorthin aufmachen. Wenn Ihr mögt, kann ich Euch zu Eurem Schutze begleiten und Euch eines der heimlichen Tore zeigen.«
Vielleicht hatte sie sich doch in ihm geirrt, denn Johanna stand der Sinn ganz und gar nicht danach, mit einem Fremden durch die Nacht zu streifen und sich von ihm geheime Orte zeigen zu lassen.
»Habt vielen Dank, aber ich werde bis morgen warten«, antwortete sie, nun weniger freundlich, um ihm zu verdeutlichen, dass sie nicht eine solche sei.
Er schien zu verstehen und wurde über und über rot. Fast konnte er ihr leidtun, denn Johanna hatte den Eindruck, dass er gar nicht beabsichtigt hatte, sie zu beleidigen. Er war einfach noch ein junger, unerfahrener Tölpel.
Es verging eine Weile des Schweigens, in der Johanna einer auf dem Rücken liegenden Schabe beim Sterben zuschaute. Dann fragte der junge Mann, nachdem er sich mehrere Male verlegen geräuspert hatte:
»Was treibt Euch in die Stadt?«
»Ich will mir dort eine Anstellung als Magd suchen.«
»Seid Ihr vom Lande?«
»So ist es.«
»Seid Ihr etwa schollenflüchtig?«
»Wie kommt Ihr denn darauf?« Johanna wurde nervös.
»Nun, das ist bei den meisten so, die es vom Lande in die Stadt zieht. Nach Jahr und Tag ist man frei. Wo kein Kläger, da kein Richter. Bislang hat es nur wenige Herren gegeben, die ihre Leute an den Ohren wieder durch die Tore hinausgezogen haben. Und wer sucht schon nach einem schwachen Weib?«
Jetzt wurde er offenbar munter.
»Also gibt es in Hameln viele wie mich?« Johannas Interesse war nun geweckt.
»Durchaus. Und wie gesagt: Die Grundherren suchen nur selten nach ihnen. Häufiger sind es die gehörnten Ehegatten, welche ihren Weibern nachstellen. Ihr seid nicht etwa Eurem Gatten entlaufen, oder?«
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