»Herausgefunden? Nach so langer Zeit?« Johanna war gespannt.
»Er sprach von einem Rattenfänger, der die Kinder mit sich genommen hat. Flöte habe er gespielt, so schön und betörend, dass die Kleinen ihm wie die Nachtwandler gefolgt seien.«
»Das ist ja schaurig. Und was hat der Rattenfänger dann mit den Kindern gemacht?«
»In einen Berg soll er sie geführt haben, und niemals mehr hat man sie gefunden. So erzählt Viktor zumindest.«
»Aus welchem Grund sollte er so etwas getan haben?«
»Vergeltung. Der Bürgermeister hatte ihm einen ganzen Batzen Gold versprochen, wenn er die Stadt von einer Rattenplage befreit. Das hat der Flötenspieler auch getan, aber als die Ratten fort waren, wollte der Bürgermeister nichts mehr von seinem Versprechen wissen und hat den Kerl einfach fortjagen lassen. Doch dann ist er eines Tages zurückgekehrt und hat alle Kinderlein geholt. So zumindest erzählt Viktor.«
»Und Viktor erzählt viel, wenn der Tag lang ist«, mischte sich plötzlich eine dritte Stimme ein. Es war die Herrin. Sie hatte sich unbemerkt genähert und gelauscht. Johanna beeilte sich, emsig weiter den Kohl zu hacken, während es Immeke gelang, sogar noch roter als purpurrot zu werden.
»Dass zahlreiche Hamelner Kinder vor weit mehr als zweihundert Jahren die Stadt verlassen haben, das ist eine altbekannte Legende«, berichtete Margarethe gutgelaunt, während sie zu dem großen Holztisch in der Mitte des Raumes ging, um sich mit den Fingern eine süße, eingelegte Kirsche aus einem Topf zu nehmen. »Doch dass da ein pfeifender Rattenfänger seine Finger im Spiel hatte, das halte ich wieder für eine der vielen, phantastischen Geschichten des guten Viktor. Recht amüsant ist es jedoch schon. War er es nicht auch, der vor einigen Jahren felsenfest behauptet hatte, auf dem Grund des Brunnens in der Fischpfortengasse lebe ein Basilisk, dessen giftiger Atem schon einige Menschen das Leben kostete?« Margarethe schüttelte lachend den Kopf und griff erneut in den Kirschtopf.
»Mit Verlaub, meine Herrin«, sagte Immeke, schüchtern auf den Boden blickend. »Aber diesen Drachen hat es tatsächlich gegeben. Mein Vetter Vinzenz war seinerzeit eines seiner Opfer. Er hatte von dem Wasser getrunken und war drei Tage danach an einem entsetzlichen Leiden zugrunde gegangen.«
»Das tut mir leid um ihren Vetter, Immeke. Aber ich für meinen Teil glaube eher an die todbringende Kraft des nach altem Fisch stinkenden, schmutzstarrenden Brunnenwassers als an den giftigen Hauch eines Basilisken.« Und das Thema wechselnd, wandte sie sich an Johanna: »Johanna? Ist sie in der Küche entbehrlich? Dann würde ich sie bitten, mir in meine Kammer zu folgen.«
Johanna nickte Immeke kurz zu. Legte das Hackmesser zur Seite, wischte sich die Finger an der Schürze ab und folgte der bereits aus der Küche hinausgetretenen Herrin hinauf in deren privates Gemach.
Nie zuvor hatte Johanna das Schlafzimmer der Witwe Gänslein betreten. Fast andächtig schritt sie nun über die Schwelle und blickte sich zunächst einmal stumm im Raume um. Es war ein äußerst freundliches Zimmer. Die Wände wurden von teuren Teppichen geschmückt, mehrere edel verzierte, fast mannshohe Truhen zeugten davon, dass die Herrin über eine große Garderobe verfügte, es gab außerdem einen hübschen Tisch, auf welchem allerlei Dosen, Kämme, Bürsten und Spangen lagen, sowie einen riesigen Spiegel, der unmittelbar hinter diesem Tisch angebracht war. Alles duftete herrlich frisch nach blumiger Seife.
Das Imposanteste in diesem Raume jedoch war die Bettstatt. Es war ein riesiger, hölzerner Kasten, der einen großen Teil des Platzes einnahm. An drei Seiten war dieser Kasten verschlossen und sein edles Holz mit kunstvollen Schnitzereien sowie einigen hübschen Bildern versehen. Nur eine Längsseite stand offen und konnte des Nachts mit einem schweren, dunkelblauen Tuch verhängt werden. Nun jedoch war dieses zur Seite geschlagen und gab den Blick frei auf einen riesigen Berg an weichen, seidenen, prall mit Daunen gefüllten, schneeweißen Kissen. Eine Truhe, aus dem gleichen glänzenden Holz wie das Bett gefertigt, ermöglichte der Herrin des Abends, des Nachts oder besser des Morgens, wenn sie müde war, den Einstieg in ihr weiches Lager, welches so weit entfernt vom kalten Boden war, dass es mit Sicherheit äußerst schmerzhaft sein musste, wenn man versehentlich im Schlafe hinausfiel.
Margarethe stand am Fenster, als ihre Dienstmagd den Raum betrat. Mit einem Schmunzeln auf den Lippen beobachtete sie die staunenden Blicke Johannas.
»Der Herr, dem sie bislang gedient hat – welchem Stande gehörte er an?«, fragte sie schließlich.
»Er war ein Ritter«, gab Johanna wahrheitsgetreu zurück.
»Ein Ritter.« Margarethe hob ihre Augenbrauen an. »Es war einst ausgesprochen ruhmreich, ein Ritter zu sein. Doch diese Zeiten sind längst vorüber. Ich nehme an, dass er nicht besonders wohlhabend war.«
Johanna zuckte nur mit den Schultern. Im Vergleich zu dem Leben, in welches sie hineingeboren war, hatte es sich bei Wilhelm von Eicheck um einen äußerst wohlhabenden Mann gehandelt. Immerhin war er Grund- und Burgherr und verfügte zudem über zahlreiches Vieh, darunter zwei edle Streitrösser und eine Meute ausgewählter Jagdhunde. Im Vergleich jedoch zu dem, was sie hier im Hause dieser Bürgersfrau zu sehen bekam, war Ritter Wilhelm wahrlich nicht mehr als ein bettelarmer Habenichts.
»Ich schließe das aus ihrem staunenden Blick. Vieles von dem, was sie in diesem Hause sieht, scheint ihr neu zu sein«, fuhr Margarethe fort und musterte Johanna dabei genau.
»So ist es. Um ehrlich zu sein, ist alles neu für mich. Prächtiger kann es selbst im Hause des Herzogs von Calenberg nicht sein.«
»Da kann ich sie beruhigen«, lachte Margarethe. »Der Herzog versteht es recht wohl, sein Leben weitaus prächtiger einzurichten, als ich es vermag. Dieses Haus glänzt durchaus durch Bescheidenheit. Sie müsste einmal nach Venedig, Florenz oder gar nach Rom reisen, um zu sehen, welcher Prunk auf Erden möglich ist. Gefällt es ihr dennoch in meinem Hause?«
»Ja, unbedingt«, antwortete Johanna rasch.
»Ich habe sie in den letzten Tagen beobachtet. Sie ist eine stille Frau, mitunter ein wenig traurig, wie mir scheint. Fleißig, verständig, und ich gewinne den Eindruck, dass ihr Geist wacher ist, als man zunächst vermuten möchte.«
Johanna wusste nicht, was sie mit diesen Worten der Herrin anfangen sollte, und schwieg, während sie den prüfenden Blick Margarethes auf sich ruhen spürte.
»Sie wird von nun an meine persönliche Magd sein. Ich habe ein neues Gewand für sie schneidern lassen«, sagte die Witwe Gänslein schließlich und deutete auf einen Stuhl, über welchem ein schlichtes, aber fein gearbeitetes, dunkelrotes Kleid, ein blütenweißes Hemd und gleich zwei gestärkte, bestickte Schürzen sowie eine hübsche, helle Haube lagen.
»Sie darf es sofort anlegen und wird mich fortan auf meinen Gängen in die Stadt und auch in die Umgebung der Stadt begleiten.«
Dann nickte sie Johanna freundlich zu und verließ ohne weitere Worte den Raum.
Ungläubig starrte Johanna auf das wunderschöne Kleid. Sollte sie sich jetzt hier, in diesem privaten Gemach ihrer Herrin, entkleiden und in die neuen Gewänder schlüpfen? Johanna zögerte eine Weile und schaute hilfesuchend zur Tür. Doch Margarethe war fort.
Begleiten sollte sie die Witwe. Das war wahrlich eine große Ehre. Leicht strichen ihre rauen Finger über den weichen Stoff.
Das bedeutete, dass sie fortan Zeit allein mit dieser ungewöhnlichen Frau verbringen musste. Ein wenig unwohl war ihr bei diesem Gedanken schon, denn einerseits bewunderte sie die schöne, stolze Margarethe, andererseits flößte sie ihr Furcht ein. Johanna war sich nicht sicher, ob es ihr gelingen würde, der Witwe Gänslein eine gute persönliche Dienstmagd zu sein.
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