Ich bin nun Rabbiner. Jawohl, Rabbiner. Und bis vor kurzem war ich der Assistent von Rabbi Aboab, der nun Oberrabbiner ist. In Amsterdam ist neuerdings der Wahnsinn ausgebrochen, und alle sprechen von nichts anderem als von der Ankunft des Messias Sabbatai Zevi. Eigenartigerweise, und das werde ich Ihnen noch genauer erklären, hat dieser Aufwand, der um ihn getrieben wird, es erst ermöglicht, dass ich Sie aufsuchen kann. Auch wenn Rabbi Aboab jeden meiner Schritte peinlich genau überwacht, ist es jetzt nicht mehr von Belang. Ich umarme Sie, und bald werden Sie alles erfahren.
Franco (auch bekannt als Rabbi Benitez)
Bento las Francos Brief ein zweites und dann ein drittes Mal. Bei den unheilverkündenden Worten »nicht mehr von Belang« verzog er das Gesicht. Was hatte das zu bedeuten? Und er verzog abermals das Gesicht bei der Erwähnung des neuen Messias. Sabbatai Zevi war in aller Munde. Erst am Tag zuvor hatte er einen Brief von einem seiner regelmäßigen Korrespondenzpartner, Henry Oldenburg, dem Sekretär der British Royal Society of Science, bekommen, der ihm von der Ankunft des Messias berichtete. Bento holte Oldenburgs Brief hervor und las nochmals den betreffenden Abschnitt.
»In aller Mund ist hier ein Gerücht von der Rückkehr der mehr als 2000 Jahre zerstreut gewesenen Israeliten in ihr Vaterland. Am hiesigen Ort glauben wenige daran, aber viele wünschen es … Ich bin begierig zu erfahren, was die Amsterdamer Juden darüber gehört haben und welchen Eindruck eine so wichtige Nachricht auf sie macht.«
In Gedanken versunken, lief Bento auf und ab. Das Zimmer mit dem gefliesten Fußboden war geräumiger als das in Rijnsburg. Seine beiden Bücherschränke, inzwischen mit über sechzig dicken Bänden gefüllt, nahmen eine der vier Wände ein; sein zerfetzter Kapuzenmantel hing neben den beiden kleinen Fenstern an einer zweiten Wand; und die beiden übrigen Wände waren mit Bordüren von Delfter Kacheln geschmückt, die holländische Künstler mit Windmühlen und etwa einem Dutzend zarter, holländischer Landschaften bemalt hatten. Sein Vermieter Daniel Tydeman, ein Kollegiant und Bewunderer seiner Philosophie, sammelte diese schönen Stücke. Daniels Beharrlichkeit war es zu verdanken gewesen, dass Bento drei Jahre zuvor Rijnsburg verlassen und ein Zimmer in dessen Haus in Voorburg gemietet hatte, einer bezaubernden Stadt, nur drei Kilometer vom Sitz der Regierung in Den Haag entfernt. Darüber hinaus war Voorburg auch die Heimat Christiaan Huygens’, des bedeutenden Astronomen und Spinozas geschätzten Kunden, der Bentos Linsen oftmals rühmte.
Bento schlug sich an die Stirn und murmelte: »Sabbatai Zevi! Das Kommen des Messias! Was für eine Tollheit! Hat eine solche närrische Leichtgläubigkeit denn nie ein Ende?« Es gab nur wenige Dinge, die Bento mehr ärgerten als irrationale numerologische Überzeugungen, und das Jahr 1666 wurde von fantastischen Prophezeiungen geradezu überschwemmt. Viele abergläubische Christen waren lange davon überzeugt gewesen, dass die große Flut 1656 Jahre nach der Schöpfung kommen würde und eine weitere Flut oder ein anderes weltveränderndes Ereignis in diesem Jahr 1656. Als jenes Jahr ohne Zwischenfälle verstrich, übertrugen sie ihre Erwartungen einfach auf das Jahr 1666, ein Jahr, dem wegen einer Bemerkung im Buch der Offenbarung besondere Bedeutung zugemessen wurde, wonach 666 nämlich die Zahl des Tieres war (»… und seine Zahl ist sechshundert und sechsundsechzig …« – Offenbarung 13:18). Deshalb hatten viele das Kommen des Antichristen für das Jahr 666 vorhergesagt. Als diese Vorhersage sich als falsch herausgestellt hatte, hatten Propheten der Letzten Tage das verhängnisvolle Datum weiter nach hinten verschoben, und zwar auf 1666 – ein Glaube, der angesichts der großen Feuersbrunst in London, die sich nur drei Monate davor ereignet hatte, noch plausibler erschien.
Die Juden waren nicht weniger leichtgläubig. Die Messianer, ganz besonders diejenigen unter den Marranen, erwarteten tatsächlich die kurz bevorstehende Ankunft des Messias, der die in alle Winde verstreuten Juden einsammeln und ins Heilige Land zurückführen sollte. Viele sahen in der Ankunft Sabbatai Zevis die Erhörung ihrer Gebete.
Am Freitag, dem Tag, an dem Franco wie vereinbart zu Besuch kommen sollte, wurde Bento anders als sonst vom Lärm des Treibens auf dem Voorburger Marktplatz abgelenkt, der nur dreißig Meter von seinem Zimmer entfernt war. Das war untypisch für Bento – normalerweise konzentrierte er sich ungeachtet des Lärms und der Geschehnisse vor dem Haus auf seine wissenschaftliche Arbeit –, aber diesmal sah er ständig Francos Gesicht vor sich. Nachdem er eine halbe Stunde lang immer wieder dieselbe Seite von Epiktet gelesen hatte, gab er auf, klappte das Buch zu und stellte es wieder in den Bücherschrank. An diesem Morgen gestattete er sich, seinen Tagträumen nachzuhängen.
Er machte das Zimmer sauber, schüttelte die Kissen auf und strich die Decken auf dem Himmelbett glatt. Er trat zurück, bewunderte seine Arbeit und dachte: Eines Tages werde ich in diesem Bett sterben . Ungeduldig erwartete er Francos Ankunft und überlegte, ob es wohl warm genug im Zimmer war. Auch wenn er selbst nicht temperaturempfindlich war, stellte er sich vor, dass Franco nach seiner Reise vermutlich frieren würde. Und so holte er zwei Arme voll Holz vom Stapel hinter dem Haus. Als er ins Haus trat, stolperte er, und alle Holzscheite polterten auf den Boden. Er sammelte sie wieder ein, trug sie in sein Zimmer und hockte sich vor den Kamin, um ein Feuer anzufachen. Daniel Tydeman, der den Lärm der herunterfallenden Holzscheite gehört hatte, klopfte vorsichtig an seine Tür. »Guten Morgen. Ein Feuer? Fühlen Sie sich nicht wohl?«
»Das Feuer ist nicht für mich, Daniel. Ich erwarte einen Besucher aus Amsterdam.«
»Amsterdam? Dann wird er hungrig sein. Ich werde der Huishouder sagen, dass sie Kaffee macht und zum Abendessen eine Portion mehr vorbereitet.«
Bento verbrachte fast den ganzen Vormittag damit, aus dem Fenster zu schauen. Als er Franco um die Mittagszeit erspähte, rannte er freudig nach draußen, schloss ihn in die Arme und führte ihn in sein Zimmer. Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, trat er zurück und bewunderte Franco, der wie jeder holländische Bürger, der etwas auf sich hielt, mit einem hohen, breitkrempigen Hut, einem langen Mantel, einer bis zum Hals zugeknöpften Jacke mit quadratischem weißen Kragen, Kniebundhosen und Strümpfen gekleidet war. Sein Haar war gebürstet und sein kurzer Bart akkurat gestutzt. Schweigend setzten sich beide auf sein Bett und strahlten einander an.
»Heute schweigen wir wieder«, sagte Bento in dem vertrauten Portugiesisch vergangener Jahre, »aber diesmal weiß ich, warum. Es gibt einfach zu viel zu erzählen.«
»Und große Freude überwältigt oft die Worte«, fügte Franco hinzu.
Ihr kostbares Schweigen wurde von Bentos kurzem Hustenanfall unterbrochen. Der Auswurf, den er in sein Taschentuch spuckte, war gelbbraun gesprenkelt.
»Sie husten wieder, Bento. Sind Sie unpässlich?«
Mit einer Geste wedelte er die Sorgen seines Freundes fort. »Mein Husten und die Verschleimung haben sich in meiner Brust häuslich eingerichtet und bewegen sich nie weit von dort weg. Aber abgesehen davon ist mein Leben angenehm. Im Exil zu sein kommt mir entgegen, und abgesehen von heute natürlich bin ich für meine Einsamkeit dankbar. Und Sie, Franco, oder soll ich Rabbi Franco Benitez zu Ihnen sagen?, Sie sehen so anders aus, so schmuck … so holländisch.«
»Ja, Rabbi Aboab, so kabbalistisch und weltfremd er sonst auch ist, wünscht trotzdem, dass ich mich wie ein normaler Holländer kleide, und er besteht sogar darauf, dass ich mir den Bart stutze. Ich glaube, er zieht es vor, der einzige Jude in der Gemeinde mit Vollbart zu sein.«
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