»Hilf mir auf die Sprünge.«
»Wegen einer antisemitischen Rede, die ich als Klassensprecher gehalten hatte, wurde von mir verlangt, einige Abschnitte aus Goethes Autobiographie auswendig zu lernen.«
»Ach ja, ja – jetzt fällt mir alles wieder ein. Ein paar Abschnitte über Spinoza. Sie gaben dir diese Aufgabe, weil Goethe Spinoza so sehr bewundert hat.«
»Ich hatte eine solche Angst, vielleicht keinen Abschluss zu erhalten, dass ich die Passagen damals auswendig gelernt habe. Ich könnte sie dir sogar jetzt noch herunterleiern, aber um es kurz zu machen, fasse ich nur die wichtigsten Punkte zusammen: Goethe schrieb, dass er in einer nervösen Gemütsverfassung gewesen sei und die Lektüre von Spinoza ihm eine erstaunliche Beruhigung seiner Leidenschaften vermittelt hätte. Spinozas mathematische Methode hätte ihm ein wunderbares Gleichgewicht zu seinen aufwühlenden Gedanken gegeben und zu Ruhe und einem disziplinierteren Denken geführt, wodurch es ihm gelungen war, seinen eigenen Schlussfolgerungen zu vertrauen und sich vom Einfluss anderer frei zu fühlen.«
»Gut gesagt, Alfred. Und im Hinblick auf dich und mich …?«
»Nun, das möchte ich von dir bekommen. Ich will das Gleiche, was Goethe von Spinoza bekommen hat. Das alles brauche ich auch. Ich möchte ein Beruhigungsmittel meiner Leidenschaften. Ich möchte …«
»Das ist gut. Sehr gut. Warte einen Augenblick. Das möchte ich kurz aufschreiben.« Friedrich schraubte seinen Füllfederhalter auf, ein Geschenk seines Supervisors, und schrieb: »Beruhigungsmittel der Leidenschaften«. Alfred fuhr fort, und Friedrich schrieb mit. »Freiheit vom Einfluss anderer. Gleichgewicht. Ruhiges, diszipliniertes Denken.«
»Gut, Alfred. Es wäre für uns beide gut, uns wieder Spinoza zuzuwenden. Und wenn wir obendrein versuchen, seine Ideen anzuwenden, könnte das einem philosophisch geneigten Geist wie dem deinen entgegenkommen. Vielleicht hält uns dieses Vorgehen auch von strittigen Themen ab. Treffen wir uns doch morgen zur selben Zeit, und inzwischen mache ich mich an die Arbeit und werde in Spinozas Werk schmökern. Darf ich mir deine Autobiographie von Goethe ausleihen? Und hast du noch dein Exemplar der Ethik ?«
»Es ist noch dasselbe Exemplar, das ich gekauft habe, als ich zwanzig war. Übrigens soll Goethe die Ethik ein ganzes Jahr lang in seiner Tasche mit sich herumgetragen haben. Ich habe das nicht getan. Ehrlich gesagt, habe ich sie seit Jahren nicht mehr in die Hand genommen. Und trotzdem bringe ich es nicht über mich, sie loszuwerden.«
Obwohl Friedrich ein paar Minuten zuvor noch unbedingt gehen wollte, setzte er sich nun wieder hin. »Ich weiß, was ich machen werde. Ich werde versuchen, die Passagen und Gedanken zu lokalisieren, die Goethe geholfen haben und die dir vielleicht auch helfen werden. Aber ich glaube, ich muss mehr darüber erfahren, was diesen jetzigen Depressionsschub ausgelöst hat.«
Alfred erzählte von seiner Selbstanalyse, die er vorhin durchgeführt hatte. Er erzählte Friedrich von seiner fehlenden Freude an seinen Erfolgen und dass der Mythus , seine größte Errungenschaft, ihm dermaßen zugesetzt hatte. Er schüttete ihm sein Herz aus, insbesondere dahingehend, dass alles unvermeidlich immer wieder bei Hitler endete. Alfred schloss seine Ausführungen mit: »Ich erkenne jetzt deutlicher denn je, dass mein ganzes Selbstwertgefühl von Hitlers Meinung von mir abhängt. Darüber muss ich hinwegkommen. Ich bin ein Sklave der Sehnsucht nach seiner Anerkennung.«
»Ich erinnere mich an deinen inneren Kampf mit diesem Thema in unserem letzten Gespräch. Du erzähltest mir, dass Hitler immer die Gesellschaft anderer bevorzugte und dich nie in den inneren Kreis einbezog.«
»Nimm jetzt das Gefühl, das ich damals hatte, multipliziere es mit zehn oder auch mit hundert. Es ist ein Fluch; es hat sich in jeden Winkel meiner Seele eingenistet. Ich muss es austreiben.«
»Ich werde mein Bestes geben. Mal sehen, was Benedictus Spinoza uns anzubieten hat.«
Am folgenden Nachmittag betrat Friedrich Alfreds Zimmer und wurde von einem besser rasierten und besser gekleideten Patienten empfangen, der flott aufstand und sagte: »Ah, Friedrich, ich brenne darauf anzufangen. Die letzten vierundzwanzig Stunden habe ich an kaum etwas anderes gedacht als an unser heutiges Treffen.«
»Du siehst besser aus.«
»So fühle ich mich auch. Es geht mir so gut wie seit Wochen nicht mehr. Wie ist das möglich? Obwohl zwei unserer Treffen im Bösen endeten, habe ich trotzdem davon profitiert, dich zu sehen. Wie machst du das, Friedrich?«
»Vielleicht bringe ich Hoffnung?«
»Teilweise ist es so. Aber da ist noch etwas anderes.«
»Ich glaube, es hat viel mit deinem sehr menschlichen Bedürfnis nach Aufmerksamkeit und Beziehung zu tun. Das müssen wir auf unserer Agenda behalten – es ist wichtig. Aber im Augenblick wollen wir uns wir uns erst einmal auf unseren Aktionsplan konzentrieren. Ich habe ein paar Passagen bei Spinoza herausgesucht, die mir relevant erscheinen. Fangen wir mit diesen beiden Sätzen an.«
Er schlug die Ethik auf und las:
»Verschiedene Menschen können von einem und demselben
Objekt auf verschiedene Weise erregt werden …
derselbe Mensch kann von einem und demselben
Objekt zu verschiedenen Zeiten auf verschiedene
Weise erregt werden.«
Als er Alfreds verwirrten Blick bemerkte, erklärte Friedrich: »Ich zitiere das nur als Ausgangspunkt für unsere Arbeit. Spinoza sagt einfach, dass jeder von uns von einem identischen, äußeren Objekt unterschiedlich beeinflusst werden kann. Deine Reaktion auf Hitler mag sich von der Reaktion anderer Menschen sehr unterscheiden. Andere mögen ihn so lieben und verehren wie du, hingegen hängt ihr ganzes Wohlbefinden und Selbstbewusstsein vielleicht nicht so ausschließlich davon ab, wie sie ihn erleben. Könnte das nicht so sein?«
»Vielleicht. Aber ich kann nicht wissen, welche inneren Erfahrungswerte andere Leute haben.«
»Ich verbringe einen großen Teil meines Lebens mit der Erforschung dieses Gebietes und bekomme viele Anhaltspunkte, die Spinozas Postulat unterstützen. So reagieren meine Patienten sogar bei ihrer allerersten Sitzung durchaus unterschiedlich auf mich. Manche misstrauen mir, während andere vielleicht sofort Vertrauen zu mir fassen, und wieder andere meinen, ich sei darauf aus, ihnen Schaden zuzufügen. Und dabei glaube ich, dass ich mit jedem Einzelnen von ihnen gleich umgehe. Wie ist das zu erklären? Nur durch die Annahme, dass es unterschiedliche innere Wahrnehmungen auf ein und dasselbe Ereignis gibt.«
Alfred nickte. »Aber was hat das mit meiner Situation zu tun?«
»Gut. Lass uns beim Punkt bleiben. Ich will damit nur sagen, dass deine Beziehung zu Hitler auf gewisse Weise eine Funktion deiner eigenen Seele ist. Meine Argumentation ist einfach. Wir müssen mit dem Ziel beginnen, dich zu ändern, statt zu versuchen, Hitlers Verhalten zu ändern.«
»Das akzeptiere ich, aber ich bin froh, dass du ›auf gewisse Weise‹ gesagt hast, denn Hitler wirkt auf alle einschüchternd. Sogar Göring sagte einmal in einem Anfall von Offenheit zu mir, dass ›alle in Hitlers Nähe Jasager sind, weil alle Neinsager sich inzwischen die Radieschen von unten anschauen.‹«
Friedrich nickte.
»Aber du hast mich davon überzeugt, dass er mich ganz besonders einschüchtert«, fuhr Alfred fort, »und ich möchte, dass du mir hilfst, das zu ändern. Hat Spinoza einen Vorschlag, wie man vorgehen könnte?«
»Sehen wir uns an, was er darüber sagt, wie man sich vom Einfluss anderer befreit«, sagte Friedrich und ging seine Aufzeichnungen durch. »Das gehört zu den Dingen, die Goethe von Spinoza lernte. Hier gibt es eine Passage in Teil Vier Über die menschliche Unfreiheit oder die Macht der Affekte: › Denn der den Affekten unterworfene Mensch steht nicht unter seinen eigenen Gesetzen, sondern unter denen des Schicksals …‹ Das beschreibt, was mit dir geschieht, Alfred. Du bist deinen Affekten unterworfen, Du wirst von Wellen der Besorgnis, Angst und Selbstverachtung hin- und hergeworfen. Hört sich das vertraut an?«
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