»Ich bin kein Psychiater, Dr. Pfister, aber in diesem Fall verstehe ich die Notwendigkeit vertraulicher Gespräche. Es ist zwar nicht das übliche Vorgehen, aber nichts ist wichtiger als Reichsleiter Rosenbergs Genesung und Rückkehr zu seiner wichtigen Arbeit. Ich bin mit Ihrer Forderung einverstanden.« Er salutierte vor den beiden Männern und verließ das Zimmer.
»Bist du jetzt beruhigt, Alfred?«
Alfred nickte. »Ich bin beruhigt.«
»Und es gibt keine anderen Fragen?«
»Ich bin zufrieden. Trotz des unerfreulichen Ausgangs unseres letzten Treffens habe ich seltsamerweise noch immer Vertrauen zu dir. Ich sage ›seltsamerweise‹, weil ich eigentlich überhaupt niemandem traue. Und ich brauche deine Hilfe. Letztes Jahr schon wurde ich hier in einem ähnlichen Zustand drei Monate lang stationär behandelt – ein tiefes schwarzes Loch, aus dem ich nicht herauskam. Ich war erledigt. Ich konnte nicht schlafen. Ich war erschöpft, konnte aber auch nicht stillsitzen, fand keine Ruhe.«
»Dein Zustand – wir nennen ihn ›agitierte Depression‹ – verschwindet fast immer nach drei bis sechs Monaten. Ich kann dir helfen, das abzukürzen.«
»Ich wäre dir unendlich dankbar. Alles – mein ganzes Leben – steht auf dem Spiel.«
»Dann machen wir uns an die Arbeit. Du kennst meinen Ansatz und wirst vermutlich nicht überrascht sein, wenn ich dir sage, dass unsere erste Aufgabe darin besteht, alle Hindernisse aus dem Weg zu räumen, die unserer Zusammenarbeit entgegenstehen könnten. Wie du habe auch ich Bedenken. Ich will mich kurz konzentrieren.«
Friedrich schloss die Augen und begann: »Es ist am besten, wenn ich reinen Tisch mache und einfach sage, was mir in den Sinn kommt. Ich habe einige Zweifel, was unsere Zusammenarbeit angeht. Wir sind zu unterschiedlich. Ich neige dazu, verstehen zu wollen, die verborgenen Wurzeln von Schwierigkeiten aufzudecken – das ist der Grundgedanke der psychoanalytischen Methode. Umfassendes Wissen beseitigt Konflikte und fördert die Heilung. Aber mit dir, fürchte ich, kann ich diesen Weg nicht gehen. Das letzte Mal, als ich versuchte, die Quelle deiner Schwierigkeiten zu erforschen, wurdest du wütend und defensiv und ranntest aus meinem Sprechzimmer. Deshalb weiß ich nicht recht, ob ich oder ob wenigstens dieser Ansatz hilfreich für dich sein kann.«
Alfred stand auf und lief im Zimmer herum.
»Wühle ich dich mit meiner Offenheit auf?«
»Nein, es sind nur meine Nerven. Ich kann nicht allzu lange sitzen. Ich schätze deine Aufrichtigkeit. Niemand spricht so offen mit mir. Du bist mein einziger Freund, Friedrich.«
Friedrich versuchte, diese Worte zu verdauen. Ohne zu wollen, fühlte er sich berührt. Und er war wütend, dass er ohne Vorankündigung in die Hohenlychen-Klinik überstellt worden war. Seine plötzliche Überstellung bedeutete, dass er eine große Zahl von Patienten mitten in ihrer Behandlung im Stich lassen musste, ohne ihnen ein genaues Datum für seine Rückkehr nennen zu können. Auch war er nicht begeistert davon, Alfred Rosenberg wiederzusehen. Sechs Jahre zuvor hatte er Alfred Rosenbergs Rücken angestarrt, als dieser mit finsteren Drohungen über die jüdischen Wurzeln seines Berufes aus seinem Sprechzimmer gestürmt war, und er war erleichtert gewesen, ihn nicht mehr wiedersehen zu müssen. Darüber hinaus hatte er versucht, den Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts zu lesen. Aber wie für alle anderen war er auch für ihn unverständlich gewesen. Das Buch gehörte zu den Bestsellern, die alle kauften, aber niemand las. Das Wenige aber, das er las, hatte ihn aufgeschreckt. Alfred leidet vielleicht wirklich, niedergeschlagen gesteht er, dass ich sein einziger Freund sei, aber er ist gefährlich – gefährlich für Deutschland, für alle.
Die Gedanken im Mythus und in Mein Kampf wiesen Parallelen auf – er erinnerte sich, dass Alfred gesagt hatte, Hitler habe ihm seine Ideen gestohlen. Beide Bücher drehten ihm den Magen um – so abscheulich, so gemein waren sie. Und so bedrohlich, dass er an Emigration gedacht und schon an Carl Gustav Jung und an Eugen Bleuler geschrieben hatte, um sich nach einer Stelle am Krankenhaus in Zürich zu erkundigen, wo er sein Praktikum absolviert hatte. Aber dann kam der verfluchte Einberufungsbrief, in dem man ihm zu seiner Ernennung zum Oberleutnant der Wehrmacht gratulierte. Er hätte früher handeln müssen. Sein Analytiker Hans Meyer hatte ihn bereits gewarnt; er hatte Mein Kampf schon mehrere Jahre zuvor an einem Wochenende gelesen, hatte die Katastrophe kommen sehen und anschließend jedem Einzelnen seiner jüdischen Patienten empfohlen, sofort das Land zu verlassen. Er selbst war innerhalb eines Monats nach London emigriert.
Was also tun? Friedrich hatte den naiven Gedanken verworfen, Alfred helfen zu können, ein besserer Mensch zu werden – diese Vorstellung verbuchte er auf seine jugendliche Torheit. Seiner eigenen Karriere (und dem Wohlergehen seiner Frau und seiner beiden kleinen Söhne) zuliebe gab es nur eine gangbare Möglichkeit: den Befehlen Folge zu leisten, sein Bestes zu tun, um Alfred so schnell wie möglich aus dem Krankenhaus zu holen und dann zurück zu seiner Familie und seinen Patienten an seinen Einsatzort in Berlin zu eilen. Er musste die Verachtung für seinen Patienten begraben und professionell arbeiten. Sein erster Schritt war die Konstruktion eines klaren Therapierahmens.
»Deine Bemerkung über unsere Freundschaft berührt mich«, sagte er. »Aber deine Feststellung, ich sei dein einziger Freund, macht mir auch Sorge. Jeder braucht Freunde und Vertraute. Wir sollten deine Isolation ansprechen: Es besteht kein Zweifel, dass sie eine Hauptrolle bei deiner Krankheit spielt. Was unsere Zusammenarbeit betrifft, will ich dir noch ein paar andere Bedenken mitteilen. Diese sind schwieriger auszudrücken, aber es ist notwendig, sie anzusprechen. Ich habe ebenfalls persönliche Anliegen. Wie du weißt, ist es mittlerweile ein Verbrechen, irgendwelche Standpunkte der Partei in Frage zu stellen. Alles, was man sagt, wird überwacht, und zweifellos wird diese Überwachung im Laufe der Zeit noch zunehmen. Das ist bei autoritären Regimes immer so. Ich bin wie die Mehrzahl der Deutschen nicht mit allen Lehren der NSDAP einverstanden. Du weißt natürlich selbst, dass Hitler nie eine Stimmenmehrheit bekommen hat. Das letzte Mal, als wir uns trafen – das ist jetzt viele Jahre her – sechs Jahre, glaube ich –, bist du aus meinem Sprechzimmer gestürmt, und zwar – erlaube mir, das zu sagen – vor Wut wie von Sinnen. In diesem Zustand könnte ich nicht darauf vertrauen, dass du meine Privatsphäre respektierst. Und das wird dazu führen, dass ich mich eingeschränkt fühle und meine Arbeit mit dir weniger effektiv sein wird. Das ist ziemlich wortreich ausgedrückt, aber ich glaube, du verstehst, was ich meine: Vertraulichkeit muss auf Gegenseitigkeit beruhen. Du hast mein persönliches und professionelles Wort, dass alles, was du sagst, hier in diesem Raum bleibt. Und ich brauche die gleiche Sicherheit.«
Beide Männer schwiegen eine Weile, bis Alfred sagte: »Ja, das verstehe ich. Ich gebe dir mein Wort, dass alle deine Bemerkungen vertraulich bleiben. Und ich verstehe auch, dass du dich nicht sicher fühlen kannst, wenn ich die Beherrschung verliere.«
»Richtig. Deshalb müssen wir in einem sichereren Rahmen arbeiten und danach trachten, uns beiden ein Gefühl von Sicherheit zu geben.«
Friedrich sah sich seinen Patienten genauer an. Alfred war unrasiert. Dunkle Säcke unter den Augen legten Zeugnis von schlaflosen Nächten ab, und seine kummervolle Miene appellierte an Friedrichs ärztliche Instinkte: Er verdrängte seine Antipathie und machte sich an die Arbeit. »Sag mir, Alfred, was ist unser Ziel? Ich möchte dir helfen. Was möchtest du von mir bekommen?«
Alfred zögerte einige Augenblicke lang und sagte dann: »Was hältst du von folgender Idee? In den letzten Wochen habe ich ziemlich viel gelesen.« Er zeigte auf den Stapel Bücher, der sich im Zimmer auftürmte. »Ich befasse mich wieder mit den Klassikern, insbesondere mit Goethe. Weißt du noch, dass ich dir von meinem Problemen mit dem stellvertretenden Direktor Epstein kurz vor meinem Schulabschluss erzählt habe?«
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