»Du kanntest ja meinen Vater! Kannst du dir vorstellen, dass er mit mir losgegangen wäre und mir irgendetwas gekauft hätte, und wenn es nur ein Bonbon gewesen wäre? Ja, es stimmt, er hat seine Frau verloren, um seine Gesundheit war es wirklich schrecklich bestellt, und er hatte große Geldprobleme, aber ich habe trotzdem nichts, absolut nichts von ihm bekommen.«
»In diesen Worten schwingen viele Gefühle mit.«
»Alle Gefühle, die du dir denken kannst.«
»Ich kannte ihn. Und ich weiß, dass du von ihm als Vater so gut wie nichts hattest – und natürlich kanntest du nicht einmal deine Mutter.«
»Tante Cäcilie tat, was sie konnte. Ihr gebe ich wirklich keine Schuld – sie hatte ja selbst Kinder. Zu viele Köpfe, die sie streicheln musste.«
»Nun, dann kommt deine große Zuneigung zu Hitler vielleicht ein Stück weit daher, dass er dir den Vater ersetzt, den du nie hattest. Wie alt ist er?«
»Ach, er ist ein paar Jahre älter. Er ist ganz anders als alle, die ich bisher kennen gelernt habe. Im Krieg war er nur Gefreiter, wenn auch hoch dekoriert. Er hat keine finanziellen Mittel, keine Kultur, hat nie eine Universität besucht. Aber trotz allem fasziniert er alle. Nicht nur mich. Die Leute scharen sich um ihn. Alle suchen seine Gesellschaft und seinen Rat. Alle spüren, dass er ein Heilsbringer ist, der Polarstern für die Zukunft Deutschlands.«
»Du hältst dich also für privilegiert, mit ihm zusammensein zu dürfen. Entwickelt sich eure Beziehung zu einer engen Freundschaft?«
»Das ist genau der Punkt – sie entwickelt sich eben nicht. Abgesehen natürlich von diesem ›Schreibtisch-Tag‹. Hitler kommt nie von sich aus auf mich zu. Ich glaube, er mag mich, aber er liebt mich nicht. Er fragt mich nie, ob ich mit ihm essen gehe. Anderen Leuten steht er viel näher. Vorige Woche sah ich, wie er sich mit Hermann Göring ausgesprochen vertraulich unterhalten hat. Sie haben die Köpfe so dicht zusammengesteckt, dass sie sich sogar berührten. Sie hatten sich gerade erst kennengelernt, aber sie lachten und scherzten miteinander, liefen Arm in Arm herum und knufften sich gegenseitig in den Bauch, als wären sie schon ein Leben lang befreundet. Warum passiert mir so etwas nicht?«
»Deine Bemerkung ›Er liebt mich nicht‹ – denk darüber nach. Lass deine Gedanken um diese Worte kreisen. Denk laut nach.«
Alfred schloss die Augen.
»Ich kann dich nicht richtig hören«, sagte Friedrich.
Alfred lächelte. »Liebe. Jemand, der mich liebt. Diese Worte habe ich nur einmal gehört, als ich mit Hilda in Paris war, bevor wir geheiratet haben.«
»Du bist verheiratet! Ja, das hatte ich fast vergessen. Du sprichst so gut wie nie von deiner Frau.«
»Vielleicht sollte ich sagen, ich war verheiratet. Offiziell bin ich es wahrscheinlich immer noch. Sehr kurze Ehe, 1915. Mit Hilda Leesman. Wir waren zwei Wochen zusammen in Paris, wo sie auf die Ballettschule ging, und höchstens drei bis vier Monate in Russland. Dann erkrankte sie schwer an Schwindsucht.«
»Wie schrecklich. Wie dein Bruder, deine Mutter und dein Vater. Was ist dann passiert?«
»Wir haben schon lange keinen Kontakt mehr. Das Letzte, was ich von ihr hörte, war, dass ihre Familie sie in ein Sanatorium im Schwarzwald gebracht hat. Ich bin nicht sicher, ob sie noch lebt. Als du sagtest, ›wie schrecklich‹, gab es mir einen Stich, weil mir das nicht sehr nahe geht. Ich denke nie an sie. Und ich bezweifle, ob sie an mich denkt. Wir haben uns entfremdet. Ich erinnere mich, dass sie kurz vor unserer Trennung zu mir sagte, dass ich mich nie nach ihrem Leben erkundigt hätte, sie nie gefragt hätte, was sie den ganzen Tag macht.«
»Nun«, sagte Friedrich und schaute auf die Uhr, »sind wir wieder genau bei dem Grund, weshalb du mich aufgesucht hast. Wir begannen mit ›kein unbefangenes Plaudern‹, ›kein Interesse an anderen‹. Dann beschäftigten wir uns mit dem Teil von dir, der wie eine Sphinx sein möchte. Dann kehrten wir zu deiner Sehnsucht nach Hitlers Liebe und Zuwendung zurück und dazu, wie enttäuschend es für dich ist zu beobachten, dass er anderen den Vorzug gibt, während du außen vor bleibst und zusehen musst. Und schließlich sprachen wir über deine Distanz zu deiner Frau. Nehmen wir uns einen Augenblick Zeit, um Nähe und Distanz näher zu betrachten. Du sagtest, du fühltest dich hier sicher?«
Alfred nickte.
»Und wie fühlst du dich mir gegenüber?«
»Sehr sicher. Und sehr verstanden.«
»Und du hast den Eindruck, dass du mir nahe bist? Dass du mich magst?«
»Ja, sowohl als auch.«
»Darin liegt heute unsere große Entdeckung. Ich glaube, du magst mich tatsächlich , und ein Hauptgrund dafür liegt darin, dass ich an dir interessiert bin. Ich erinnere mich an deine Bemerkung von vorhin, dass du nicht glaubst, an anderen interessiert zu sein. Doch Menschen mögen nun einmal Menschen, die an ihnen interessiert sind. Das ist die wichtigste Botschaft, die ich heute für dich habe. Ich sage es nochmals: Menschen mögen Menschen, die an ihnen interessiert sind .
Wir haben heute gute Arbeit geleistet. Es ist unsere erste Sitzung, und du bist schon mittendrin. Es tut mir leid, dass ich jetzt Schluss machen muss, aber es war wirklich ein langer Tag, und meine Energie lässt allmählich nach. Ich hoffe wirklich, dass du mich oft besuchen kommst. Ich habe das Gefühl, dass ich dir helfen kann.«
Innerhalb des folgenden Jahres unterhielt Spinoza – nicht mehr Baruch, sondern jetzt und für alle Zeiten Bento (oder Benedictus in seinen Schriften) – eine seltsame, nächtliche Beziehung zu Franco. Fast jede Nacht, wenn Bento in seiner kleinen Dachstube im Haus van den Endens in seinem Himmelbett lag und den Schlaf herbeisehnte, tauchte Francos Bild in seinen Gedanken auf. So nahtlos und verstohlen war sein Auftritt, dass Bento entgegen seiner sonstigen Art nie dahinterzukommen versuchte, weshalb er sich Franco so oft vergegenwärtigte.
Aber zu anderen Zeiten dachte Bento nie an Franco. Seine wachen Stunden waren mit intellektueller Arbeit vollgestopft, die ihm mehr Freude bereitete als irgendetwas, das er bisher erlebt hatte. Immer wenn er sich als gebrechlichen Alten vorstellte, der über sein Leben reflektierte, wusste er, dass er genau diese Zeit zu seiner besten Zeit wählen würde, diese Tage, geprägt von der Verbundenheit mit van den Enden und den anderen Schülern, mit denen er seine Latein- und Griechischkenntnisse perfektionierte und sich den großen Themen der antiken Welt zuwandte: Demokrits atomistischem Universum, Platons Form des Guten, Aristoteles’ Unbewegtem Beweger und der stoischen Ungebundenheit von Leidenschaften.
Sein Leben war schön durch seine Einfachheit. Bento stimmte mit Epikur vollkommen überein, der behauptete, die Bedürfnisse des Menschen seien gering und leicht zu erfüllen. Bento brauchte nur ein Zimmer mit Verpflegung, ein paar Bücher, Papier und Tinte. Die dafür notwendigen Gulden konnte er mit dem Schleifen von Linsen für Brillen an nur zwei Wochentagen und mit Hebräischunterricht für die Kollegianten verdienen, welche die Heilige Schrift in ihrer Originalsprache lesen wollten.
Die Lateinschule ermöglichte ihm nicht nur die Ausübung eines Berufes und gab ihm ein Zuhause, sondern bot ihm auch ein gesellschaftliches Leben – zuweilen mehr, als es Bento lieb war. Man erwartete von ihm, mit der Familie van den Enden und den in der Lateinschule beherbergten Schülern das Abendessen gemeinsam einzunehmen, doch stattdessen ging er oft mit einem Teller Brot und hartem holländischen Käse sowie mit einer Kerze in sein Zimmer und las. Sein häufiges Fehlen am Esstisch grämte Madame van den Enden, die ihn für einen gewandten Gesprächsteilnehmer hielt und erfolglos versuchte, ihn zu mehr Geselligkeit zu ermuntern. Sie bot ihm sogar an, seine Lieblingsgerichte zu kochen und auf koschere Zubereitung zu achten. Bento versicherte ihr, dass er sich in keiner Weise an Speisevorschriften hielte, sich aber nur nichts aus Essen machte und durchaus mit dem Einfachsten zufrieden wäre – mit Brot, Käse, seinem täglichen Glas Bier und seinem langstieligen Tonpfeifchen, das er zum Abschluss gern schmauchte.
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