Alfred machte ein verwirrtes Gesicht: »Rahmen?«
»Lass uns einfach zurückgehen und eine Vereinbarung treffen, worauf wir eigentlich hinauswollen. Ich stelle die Vermutung an, dass du im Rahmen einer Therapie daran arbeiten möchtest, dich zu ändern. Ist das richtig?«
»Ich weiß nicht, was ›in einer Therapie arbeiten‹ genau heißt.«
»Es ist nichts anderes als das, was du in den letzten zehn Minuten so gut gemacht hast, nämlich offen und ehrlich über deine Anliegen zu sprechen.«
»Ich will auf jeden Fall etwas an mir ändern. Also gut: Ja, ich will eine Therapie. Und ich will auch mit dir arbeiten.«
»Aber eine Veränderung erfordert viele, viele Sitzungen, Alfred. Das heute Abend ist nur ein informelles Einführungsgespräch, und morgen fahre ich zu einer dreitägigen psychoanalytischen Konferenz. Ich denke an die Zukunft. Berlin und München sind weit voneinander entfernt. Wäre es da nicht sinnvoller, wenn du dir einen Psychoanalytiker in München nimmst, den du häufiger aufsuchen kannst? Ich kann dir eine gute Empfehlung …«
Alfred schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Kein anderer. Ich kann unmöglich jemandem anderen vertrauen, und in München erst recht niemandem. Ich bin überzeugt, sehr fest überzeugt davon, dass ich eines Tages in diesem Land eine Machtposition ausüben werde. Ich werde meine Feinde haben, und jeder könnte mich ruinieren, der meine Geheimnisse kennt. Ich weiß, dass ich bei dir sicher aufgehoben bin.«
»Ja, bei mir bist du sicher aufgehoben. Nun, dann wollen wir uns einen Terminplan überlegen. Wann könntest du wieder nach Berlin kommen?«
»Das weiß ich nicht genau, aber ich weiß, dass der Völkische Beobachter demnächst als Tageszeitung erscheinen wird und dass wir mehr nationale und internationale Nachrichten bringen werden. In Zukunft werde ich vielleicht häufig nach Berlin kommen können und hoffe, dass ich dich dann zu einer oder zwei Sitzungen aufsuchen kann.«
»Wenn du mir eine gewisse Vorlaufzeit gibst, werde ich mich immer bemühen, mir Zeit für dich zu nehmen. Ich möchte, dass du weißt, dass ich alles, was du sagst, mit absoluter Vertraulichkeit behandeln werde.«
»Da bin ich mir sicher. Das ist das Allerwichtigste für mich, und es hat mich sehr beruhigt, dass du dich geweigert hast, mir irgendetwas Persönliches über deinen Patienten, den Sohn des Kochs, zu erzählen.«
»Und ich kann dir versichern, dass ich auch deine Geheimnisse niemandem erzählen werde, nicht einmal die Tatsache, dass du bei mir in Therapie bist. Das gilt übrigens auch für deinen Bruder. In meinem Fachgebiet ist Vertraulichkeit unerlässlich, und darauf gebe ich dir mein Wort.«
Alfred klopfte sich auf sein Herz und murmelte: »Danke. Vielen Dank.«
»Weißt du«, sagte Friedrich, »vielleicht hast du Recht. Ich glaube, unsere Vereinbarung würde besser funktionieren, wenn sie auf Augenhöhe stattfände. Ich denke, dass ich dir ab dem nächsten Mal das Standardhonorar für eine Analyse berechnen sollte. Ich bin sicher, dass du dir das leisten kannst. Was hältst du davon?«
»Perfekt.«
»Aber nun zurück an die Arbeit. Fahren wir fort. Vor ein paar Minuten, als wir darüber sprachen, dass die Leute dich ›Sphinx‹ genannt haben, sagtest du, du hättest ›gemischte‹ Gefühle. Nun hätte ich gern, dass du ›Sphinx‹ frei assoziierst. Damit meine ich, dass du versuchst, alles, was dir zu ›Sphinx‹ einfällt, zuzulassen und laut zu denken. Es braucht keinen Sinn zu ergeben.«
»Jetzt gleich?«
»Ja, nur ein paar Minuten.«
»Sphinx … Wüste, riesig, geheimnisvoll, mächtig, rätselhaft, vertraut sich niemandem an … gefährlich – die Sphinx erwürgte diejenigen, die ihre Rätselaufgabe nicht lösen konnten.« Alfred hielt inne.
»Mach weiter.«
»Wusstest du eigentlich, dass der griechische Wortstamm so viel wie ›Würger‹ bedeutet oder einer, der zudrückt? Der Begriff ›sphincter‹ für den Schließmuskel ist verwandt mit Sphinx – alle Schließmuskeln des Körpers klemmen irgendetwas … fest … verklemmt.«
»Nun«, fragte Friedrich, »mit ›gemischten Gefühlen‹ meintest du also, dass es dir nicht gefiel, als so still, so unnahbar und verklemmt angesehen zu werden, dass du aber nichts dagegen hattest, als rätselhaft, geheimnisvoll, mächtig, bedrohlich zu gelten?«
»Ja, das stimmt, das stimmt genau.«
»Dann stehen sich vielleicht die positiven Aspekte – dein Stolz darauf, mächtig und geheimnisvoll, ja sogar gefährlich zu sein – und eine ungezwungene Plauderei und Offenheit gegenseitig im Wege. Das bedeutet, dass du eine Wahl hast – entweder zu plaudern und dazuzugehören oder aber geheimnisvoll und gefährlich zu bleiben und ein Außenseiter zu sein.«
»Ich verstehe, worauf du hinauswillst. Es ist komplex.«
»Alfred, wenn ich mich recht erinnere, warst du auch in deiner Jugend ein Außenseiter, stimmt’s?«
»Ich war immer ein Einzelgänger. Hatte nie einen Freundeskreis.«
»Aber du sprachst auch davon, dass du dich mit dem Parteiführer, Herrn Hitler, sehr gut verstehst. Das ist bestimmt ein gutes Gefühl. Erzähl mir von dieser Freundschaft.«
»Ich verbringe viel Zeit mit ihm. Wir trinken Kaffee, wir unterhalten uns über Politik, Literatur und Philosophie. Wir besuchen Kunstgalerien, und letzten Herbst gingen wir einmal auf den Marienplatz – weißt du, wo der ist?«
»Ja, der Platz mitten in München.«
»Richtig. Fantastisches Licht dort! Wir stellten unsere Staffeleien auf und zeichneten stundenlang zusammen. Dieser Tag stach als einer meiner schönsten Tage hervor. Unsere Zeichnungen waren gut; wir lobten uns gegenseitig und stellten Ähnlichkeiten bei unserer Arbeit fest. Wir beide sind ziemlich gut, was architektonische Motive anbelangt, und ziemlich schwach bei menschlichen Figuren. Ich hatte mich immer gefragt, ob meine Unfähigkeit, Menschen zu zeichnen, vielleicht Symbolkraft hat, und war erleichtert, als ich feststellte, dass ihm die gleichen Grenzen gesetzt sind. Bei Hitler hat es ganz bestimmt keine Symbolkraft – niemand kann besser mit Menschen umgehen als er.«
»Hört sich an, als hätte es dir Spaß gemacht. Hast du danach noch einmal mit ihm gezeichnet?«
»Er hat es mir nie wieder vorgeschlagen.«
»Erzähl mir von anderen schönen Erlebnissen mit ihm.«
»Der allerschönste Tag in meinem Leben war vor ungefähr drei Wochen. Hitler ging gemeinsam mit mir einen Schreibtisch für mein neues Büro kaufen. Seine Geldbörse war mit Schweizer Franken vollgestopft – keine Ahnung, wie er an die gekommen ist, und ich frage niemals nach. Ich überlasse es lieber ihm zu entscheiden, was er mir wann erzählt. Eines Vormittags kam er in den Beobachter und sagte: ›Wir gehen einkaufen. Du kannst dir jeden Schreibtisch kaufen, der dir gefällt – und auch das ganze Zeug, was du daraufstellen willst.‹ Und dann zogen wir zwei Stunden lang durch die teuersten Möbelgeschäfte in München.«
»Der schönste Tag deines Lebens – das sagt viel aus. Erzähl mir mehr davon.«
»Zum Teil war es einfach die Begeisterung über das Geschenk. Stell dir vor, da geht einer mit dir los und sagt: ›Kauf dir jeden Schreibtisch, der dir gefällt.‹ Zu jedem Preis. Und dass Hitler sich so viel Zeit für mich genommen hat, war einfach göttlich!«
»Warum ist er so wichtig für dich?«
»Von einem praktischen Standpunkt aus gesehen, ist er inzwischen Parteivorsitzender, und meine Zeitung ist die Parteizeitung. Somit ist eigentlich er mein Chef. Aber ich glaube nicht, dass du das meintest.«
»Nein, ich meinte ›wichtig‹ in einem tieferen, persönlicheren Sinn.«
»Schwer in Worte zu fassen. Hitler hat einfach diese gewisse Ausstrahlung, nicht nur auf mich, sondern auf alle.«
»Er ging mit dir auf eine wunderbare Einkaufstour. Hört sich an, als hättest du dir das auch von deinem Vater gewünscht.«
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