Franco öffnete die Tür, spähte nach links und rechts und ging davon. Bento sah sich ein letztes Mal in seinem Heim um, legte die Notiz für Gabriel auf einen Stuhl am Eingang, damit er sie nicht übersehen konnte, öffnete mit der Tasche in der Hand die Tür und trat in ein neues Leben.
»Nun …«, Alfred zögerte. »Es gibt tatsächlich etwas , von dem ich bedauern würde, es nicht mit dir besprochen zu haben, aber … nun ja … ich weiß nicht recht, wie ich es anschneiden soll. Ich konnte schon den ganzen Abend nicht darüber sprechen.«
Friedrich wartete geduldig. Die Worte seines Supervisoren Karl Abraham dröhnten in seinen Ohren: »Wenn Sie sich festgefahren haben, vergessen Sie den Inhalt und konzentrieren Sie sich auf die Resistenz. Sie werden feststellen, dass Sie auf diese Weise sogar mehr über Ihren Patienten erfahren werden.« Dessen eingedenk, begann Friedrich: »Ich glaube, ich kann dir helfen, Alfred. Ich schlage dir Folgendes vor: Vergiss im Augenblick alles, was du mir sagen wolltest, und lass uns stattdessen alle Hindernisse besprechen, die dir im Weg stehen, es auszusprechen.«
»Hindernisse?«
»Alles, was dir im Weg steht, dass du mit mir sprichst. Zum Beispiel, was wären die Auswirkungen, wenn du mir sagst, was du mir sagen möchtest?«
»Auswirkungen? Ich weiß nicht genau, was du meinst.«
Friedrich war geduldig. Er wusste, dass Resistenz taktvoll und von allen Seiten her eingekreist werden musste. »Lass es mich so sagen. Du hast etwas, was du loswerden möchtest, aber du kannst es nicht aussprechen. Welche negativen Folgen könnten sich ergeben, wenn du darüber sprechen würdest? Denke daran, dass ich dabei eine zentrale Rolle spiele. Du versuchst, nicht etwas in einen leeren Raum hinein zu sagen – du versuchst, es mir zu sagen. Richtig?«
Ein zögerndes Nicken von Alfred. Friedrich fuhr fort: »Und nun versuche, dir vorzustellen, dass du mir gerade offenbart hast, was dich beschäftigt. Was glaubst du, wie ich dich einschätzen würde?«
»Ich weiß nicht, wie du reagieren würdest. Vermutlich wäre es mir einfach nur peinlich.«
»Aber um etwas als peinlich zu empfinden, bedarf es einer zweiten Person, und heute bin ich diese Person, jemand, der dich von Kindesbeinen an kennt.« Friedrich war sehr stolz auf seine sanfte Stimme. Dr. Abrahams Schelte, nicht immer wie ein wilder Stier gegen Resistenzen anzupreschen, zeigte Wirkung.
»Nun«, Alfred holte tief Luft und sprang ins kalte Wasser, »zum einen könntest du glauben, dass ich dich ausnutzen wollte, wenn ich dich um Hilfe bitte. Es ist mir peinlich, dich um deine psychologischen Dienste zu bitten, ohne dafür zu bezahlen. Und außerdem gibt es mir das Gefühl, der Schwache zu sein und du der Starke.«
»Das ist ein ausgezeichneter Anfang, Alfred. Genau das meinte ich. Und nun kann ich dein Dilemma nachvollziehen. Das muss dir alles sehr ungleich verteilt vorkommen. Ich würde mich einem anderen gegenüber auch nicht gern so verpflichtet fühlen. Aber andererseits hast du dich schon dadurch erkenntlich gezeigt, dass du einen Zeitungsartikel für mich veröffentlichen willst.«
»Das ist nicht dasselbe. Du bekommst nichts Persönliches.«
»Das verstehe ich. Aber sag mir, glaubst du, dass es mir widerstrebt, dir etwas anzubieten?«
»Ich weiß nicht – vielleicht. Schließlich ist deine Zeit kostbar. Du machst das den ganzen Tag lang gegen Bezahlung.«
»Und wenn ich dir darauf antworte, dass du für mich wie ein Familienmitglied bist: Ist das auch nicht relevant?«
»Stimmt. Ich verstehe das als Besänftigung.«
»Sag mir, wie ist es, wenn wir uns über Spinoza, über Philosophie unterhalten? Ich habe das Gefühl, dass du damit entspannter umgehst.«
»Ja, das ist anders. Obwohl du mir etwas beibringst, habe ich den Eindruck, dass dir philosophische Gespräche Spaß machen.«
»Ja, da hast du Recht. Während ich keinen Spaß daran hätte, dir zuzuhören, wenn du über dich sprichst?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was in aller Welt dir daran Spaß machen sollte.«
»Ich will dir sagen, was ich denke – es ist nur eine Vermutung: Vielleicht hast du dir gegenüber negative Gefühle, und du glaubst, dass ich ebenfalls negativ über dich denke, wenn du dich mir anvertraust?«
Alfred machte ein verwirrtes Gesicht. »Möglich. Kann sein, aber wenn es so ist, ist es nicht der Hauptgrund. Ich kann mir selbst nur einfach nicht vorstellen, für jemand anderen ein solches Interesse aufzubringen.«
»Das hört sich wichtig an, und ich stelle mir vor, dass es ein Risiko ist, mir das zu sagen. Sag, Alfred: Kommt das dem Thema nahe, von dem du bedauern würdest, es heute nicht angesprochen zu haben?«
Alfred grinste breit: »Mein Gott! Du kannst das wirklich gut , Friedrich! Ja, mehr als nahe. Das ist genau das Thema.«
»Erzähl mir mehr darüber.« Friedrich entspannte sich. Nun segelte er in vertrauten Gewässern.
»Also, kurz vor meiner Abreise rief mich mein Chef Dietrich Eckart in sein Büro. Er wollte einfach nur über meine Reise nach Paris sprechen, aber das wusste ich nicht, und das Erste, was er tat, als ich in sein Büro kam, war, mich zu schelten, weil ich ein so besorgtes Gesicht machte. Nachdem er mir versichert hatte, dass ich gute Arbeit leiste, sagte er dann, dass es mir viel besser anstünde, nicht so fleißig zu sein und dafür ein bisschen mehr zu trinken und unverbindlich zu plaudern.«
»Und diese Feststellung traf dich genau an deinem wunden Punkt.«
»Ja, weil es stimmt – das haben mir die Leute auf die eine oder andere Art schon oft gesagt. Und ich sage es mir selbst. Aber ich kann einfach nicht mit Hohlköpfen herumsitzen und über nichts reden.«
Eine Begebenheit kam Friedrich in den Sinn, eine Begebenheit vor fünfundzwanzig Jahren, als er erfolglos versucht hatte, Alfred huckepack zu tragen. Bei ihrem letzten Treffen hatte er Alfred davon erzählt und hinzugefügt: »Ich konnte dich nicht zum Spielen bewegen.« Dass solche Marotten ein Leben lang Bestand hatten, faszinierte Friedrich. Was für eine seltene Gelegenheit, die Entstehung der Persönlichkeitsbildung zu erforschen! Das könnte ein großer, beruflicher Durchbruch sein. Welchem anderen Analytiker bot sich schon jemals die Chance, jemanden zu analysieren, den er schon als Kind gekannt hatte? Und dazu kam noch, dass er die für den Patienten prägenden Erwachsenen kannte: Alfreds Vater, den Bruder und die Ersatzmutter, Tante Cäcilie, ja sogar Alfreds Arzt. Und er war mit dem Milieu vertraut: mit Alfreds Zuhause, dem Spielplatz. Und sie waren zur selben Schule gegangen und hatten dieselben Lehrer gehabt. Wie schade, dass Alfred nicht in Berlin wohnte, sonst hätte er eine umfassende Psychoanalyse mit ihm durchführen können.
»Und genau in diesem Moment, direkt nachdem Dietrich Eckart mir das gesagt hatte«, fuhr Alfred fort, »beschloss ich, dich aufzusuchen. Ich wusste, dass er Recht hat. Erst ein paar Tage vorher hatte ich zufällig mitbekommen, dass zwei Angestellte über mich sprachen und mich als ›Sphinx‹ bezeichneten.«
»Wie hast du das aufgenommen?«
»Mit gemischten Gefühlen. Das waren keine wichtigen Leute, nur Putzpersonal und Lieferanten, und normalerweise kümmere ich mich nicht um die Meinung solcher Leute. Aber in diesem Fall erregten sie meine Aufmerksamkeit, weil sie so Recht hatten. Ich bin verschlossen und unzugänglich, und ich weiß, dass ich diesen Teil von mir ändern muss, wenn ich bei der Nationalsozialistischen Partei erfolgreich sein will.«
»Du sagtest ›gemischte Gefühle‹. Was ist positiv daran, eine Sphinx zu sein?«
»Hmm, so genau weiß ich es auch nicht, vielleicht ist …«
»Warte, unterbrechen wir hier kurz, Alfred. Die Pferde sind mit mir durchgegangen. Das ist unfair dir gegenüber. Ich bombardiere dich mit persönlichen Fragen, und wir haben uns noch nicht einmal darüber verständigt, was wir hier eigentlich machen. Oder, um es mit einem Fachbegriff meines Berufsstandes auszudrücken, wir haben den Rahmen unserer Beziehung noch nicht definiert, stimmt’s?«
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