»Ich glaube, ich begreife, was Sie meinen – das ist ein gigantischer Gedanke. Keine Freiheit des Willens? Ich bin skeptisch. Das möchte ich anfechten. Es ist nämlich so: Ich denke, dass ich frei entscheiden kann zu sagen: ›Das möchte ich anfechten.‹ Dennoch habe ich keine Argumente parat. Bis zu unserem nächsten Treffen werde ich mir einige überlegen. Aber Sie sprachen vom Attentäter und einer Verknüpfung der Ursachen, als ich Sie unterbrochen habe. Bitte fahren Sie fort, Bento.«
»Ich glaube, es ist ein Naturgesetz, auf ganze Klassen von Dingen in gleicher Weise zu reagieren. Dieser Attentäter war vielleicht außer sich vor Trauer um seine Familie, hörte, dass ich ein ehemaliger Jude bin, und stellte mich mit anderen ehemaligen Juden, die seiner Familie Leid zugefügt haben, auf die gleiche Stufe.«
»Ihre Denkmethode erscheint mir logisch, aber sie muss auch den Einfluss anderer einbeziehen, die ihn vielleicht dazu ermutigt haben, so etwas zu tun.«
»Diese ›anderen‹ unterliegen ebenfalls einer Verknüpfung von Ursachen«, sagte Bento.
Franco überlegte und nickte. «Wissen Sie, was ich denke, Bento?«
Bento sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Ich glaube, das ist eine Lebensaufgabe.«
»Insoweit stimmen wir vollkommen überein. Und ich bin damit einverstanden, sehr einverstanden sogar, mein Leben dieser Aufgabe zu widmen. Aber was wollten Sie über den Einfluss anderer auf den Attentäter sagen?«
»Ich glaube, dass die Rabbiner ihn anstifteten und die Gedanken und Handlungen Ihres Attentäters steuerten. Das Gerücht geht um, dass er im Augenblick im Keller der Synagoge versteckt gehalten wird. Ich glaube, die Rabbiner wollten der Kongregation mit Ihrem Tod die Gefahren vor Augen führen, die jemandem drohen, der die rabbinische Autorität anzweifelt. Ich habe die Absicht, der Polizei zu sagen, wo er sich vielleicht versteckt hält.«
»Nein, Franco. Tun Sie das nicht ! Denken Sie an die Folgen. Der Kreislauf aus Trauer, Wut, Rache, Strafe, Vergeltung ist endlos und wird Sie und Ihre Familie am Ende verschlingen. Wählen Sie einen religiösen Weg.«
Franco sah ihn entsetzt an: »Religiös? Wie können Sie den Begriff ›religiös‹ in den Mund nehmen?«
»Ich meine einen moralischen Pfad, einen tugendhaften Pfad. Wenn Sie diesen Kreislauf von seelischem Schmerz durchbrechen wollen, müssen Sie mit diesem Attentäter sprechen«, sagte Bento. »Beruhigen Sie ihn, lindern Sie sein Leid, versuchen Sie, ihn aufzuklären.«
Franco nickte langsam und saß schweigend da, während er Bentos Worte verdaute. Dann sagte er: »Bento, lassen Sie uns noch einmal zu dem zurückgehen, was Sie vorhin über Ihre tiefe Wunde im Kopf sagten. Wie ernst ist diese Wunde?«
»Ehrlich gesagt, Franco, bin ich vor Angst wie gelähmt. Mein Brustkorb fühlt sich so eng an, als wollte er gleich bersten. Ich kann mich nicht beruhigen, obwohl ich schon seit dem Vormittag daran arbeite.«
»Wie arbeiten Sie daran?«
»Nun, so, wie ich es Ihnen beschrieben habe – ich rufe mir in Erinnerung, dass alles eine Ursache hat und das, was geschah, notwendigerweise geschah.«
»Was bedeutet notwendigerweise ?«
»Unter Berücksichtigung aller Faktoren, die sich vorher ereigneten, musste dieser Vorfall eintreten. Er war nicht zu verhindern. Und eines der wichtigsten Dinge, die ich gelernt habe, ist, dass es wider die Vernunft ist, etwas beherrschen zu wollen, das wir nicht beherrschen können. Das, und davon bin ich überzeugt, ist ein wahrer Gedanke, und dennoch kehren die Bilder dieses Überfalls immer wieder zurück und verfolgen mich.« Bento hielt einen Augenblick inne, als seine Augen seinen zerfetzten Mantel streiften. »Gerade eben kam mir in den Sinn, dass der Anblick dieses Mantels da drüben auf dem Stuhl das Problem verschlimmern könnte. Ein großer Fehler, ihn dort liegen zu lassen. Ich muss mich ein für alle Mal davon trennen. Einen Augenblick lang dachte ich daran, ihn Ihnen zu schenken, aber natürlich dürfen Sie nicht mit diesem Mantel gesehen werden. Es war der Mantel meines Vaters und ist leicht zu erkennen.«
»Ich bin anderer Meinung. Ihn aus dem Weg zu räumen ist keine gute Idee. Darf ich Ihnen wiedergeben, was mein Vater in sehr ähnlichen Situationen immer sagte? ›Wirf ihn nicht weg. Blockiere nicht einen Teil deines Geistes, sondern tu genau das Gegenteil.‹ Deshalb schlage ich Ihnen vor, Bento, dass Sie ihn immer dort hängen lassen, wo Sie ihn gut sehen können, irgendwo, wo Sie ihn immer im Blick haben, damit er Sie an die Gefahren erinnert, denen Sie ausgesetzt sind.«
»Ich verstehe die Weisheit dieses Rates. Es erfordert viel Mut, ihn zu befolgen.«
»Bento, es ist unbedingt notwendig, dass Sie diesen Mantel immer im Blickfeld haben. Ich glaube, Sie unterschätzen die Gefahren, die in Ihrer Situation nun auf Sie lauern. Gestern sind Sie fast umgekommen. Bestimmt fürchten Sie sich vor dem Tod?«
Bento nickte. »Ja. Obwohl ich daran arbeite, diese Furcht zu überwinden.«
»Wie? Jeder fürchtet sich vor dem Tod.«
»Die Menschen fürchten sich unterschiedlich stark davor. Einige Philosophen aus der Antike, die ich gerade studiere, suchten nach Wegen, um die Angst vor dem Tod zu vermindern. Erinnern Sie sich an Epikur? Wir sprachen einmal über ihn.«
Franco nickte. »Ja, der Mann, der sagte, der Zweck des Lebens bestehe darin, in einem Zustand der Seelenruhe zu leben. Was genau war der Begriff, den er benutzte?«
» Ataraxia . Epikur glaubte, dass der größte Störenfried von ataraxia unsere Furcht vor dem Tode sei, und er lehrte seine Schüler mehrere machtvolle Argumente, um sie zu verringern.«
»Was zum Beispiel?«
»Nun, er geht davon aus, dass es kein Leben nach dem Tod gibt und dass wir nach unserem Tod von den Göttern nichts zu befürchten haben. Dann sagte er, dass Tod und Leben niemals koexistieren können. Mit anderen Worten: Wo Leben ist, ist kein Tod, und wo Tod ist, ist kein Leben.«
»Das hört sich logisch an, aber ich bezweifle, dass es mitten in der Nacht zur Beruhigung taugt, wenn man gerade aus einem Alptraum erwacht, in dem man stirbt.«
»Epikur hat allerdings noch ein Argument, das Symmetrie-Argument, das sogar noch mächtiger sein könnte. Es postuliert, dass der Zustand des Nichtseins nach dem Tod identisch mit dem Zustand des Nichtseins vor der Geburt ist. Und obwohl wir den Tod fürchten, empfinden wir kein Grauen, wenn wir an jenen früheren, identischen Zustand denken. Daher haben wir auch keinen Grund, den Tod zu fürchten.«
Franco atmete hörbar ein. »Das weckt meine Aufmerksamkeit, Bento. Sie sagen die Wahrheit. Dieses Argument hat die Macht zu beruhigen.«
»Wenn ein Argument ›die Macht hat zu beruhigen‹, unterstützt das die Vorstellung, dass kein Ding an und für sich wirklich gut oder schlecht, angenehm oder beängstigend ist. Es ist nur unser Geist, der es dazu macht. Denken Sie daran, Franco – es ist nur unser Geist, der es dazu macht . Diese Vorstellung hat wahre Macht, und ich bin überzeugt davon, dass sie den Schlüssel zur Heilung meiner Wunde in Händen hält. Was ich tun muss, ist, die Reaktion meines Geistes auf den Vorfall von letzter Nacht zu verändern. Aber ich habe bis jetzt noch nicht entdeckt, wie das gehen soll.«
»Ich bin verblüfft, dass Sie selbst mitten in Ihrer Panik noch philosophieren können.«
»Ich muss es als eine Gelegenheit zum Verstehen betrachten. Was kann wichtiger sein, als aus erster Hand zu lernen, die Furcht vor dem Tod zu verringern? Erst vor wenigen Tagen las ich einen Satz eines römischen Philosophen namens Seneca, der sagte: ›Kein Grauen wagt es, in das Herz einzudringen, das sich selbst von Todesfurcht gereinigt hat.‹ Mit anderen Worten: Hat man einmal die Todesfurcht besiegt, besiegt man auch jede andere Furcht.«
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