Und dennoch hatte keiner der Rabbiner, die ihn ausbildeten, und auch keiner der Gelehrten früherer Zeiten jemals die Gültigkeit ihrer wesentlichen Texte angezweifelt und auch nicht, ob die Bücher Mose wirklich die Worte Gottes waren. Als er es vor mehr als einem Dutzend Jahren gewagt hatte, in einer Unterrichtsstunde über jüdische Geschichte nachzufragen, wie Gott ein Schriftstück mit so vielen Ungereimtheiten geschrieben haben konnte, hatte Rabbi Mortera langsam den Kopf gehoben, ihn ungläubig angestarrt und geantwortet: »Wie kannst du als einzelne Menschenseele, der du praktisch noch ein Kind bist, an Gottes Urheberschaft zweifeln und dich erdreisten, Gottes unendliche Weisheit und Gottes Absichten zu kennen? Weißt du nicht, dass die Verkündigung des Bündnisses mit Israel an Moses von Zehntausenden, ja Hunderttausenden, ja vom ganzen Volk Israel bezeugt wurde? Das haben mehr Menschen beobachtet als jedes andere Ereignis in der ganzen Geschichte.«
Der Tonfall des Rabbiners sollte der Klasse zu verstehen geben, dass kein Schüler jemals wieder eine so törichte Frage wagen sollte. Was auch niemand mehr wagte. Und niemandem außer ihm, so schien es Bento, war jemals aufgefallen, dass das Volk Israel mit seiner kollektiven, ehrfürchtigen Haltung gegenüber der Thora ebenjene Sünde begangen hatte, vor der Gott sie durch Moses am meisten gewarnt hatte: die Götzenanbetung. Die Juden auf der ganzen Welt huldigten nicht goldenen Götzen, sondern Götzen aus Papier und Tinte.
Als er einem kleinen Boot nachsah, das in einem Seitenkanal verschwand, hörte Bento, wie jemand auf ihn zugerannt kam. Er schaute auf und sah Manny, den Sohn des Bäckers, seinen pummeligen, leicht begriffsstutzigen, aber treuen Klassenkameraden und lebenslangen Freund. Reflexartig lächelte Bento und blieb stehen, um seinen Freund zu begrüßen. Doch Manny rannte unbeirrt weiter, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, über die Brücke und die Straße hinunter zur Bäckerei seines Vaters.
Bento erschauerte. Also war der Cherem nun tatsächlich verhängt worden! Natürlich hatte er gewusst, dass er Realität war – Rabbi Morteras feindseliger Blick hatte es ihm verraten und auch die leeren Straßen und Rebeccas Ohrfeige, die ihm immer noch auf der Wange brannte. Aber erst als Manny sich von ihm abgewandt hatte, brach die Realität mit voller Wucht über ihn herein. Er schluckte und dachte: Umso besser – sie zwingen mich nichts zu tun, was ich nicht aus freien Stücken getan hätte. Ich fürchtete das Aufsehen, aber da sie es so wollen, werde ich nun freudig den Weg beschreiten, der sich mir eröffnet hat.
»Ich bin kein Jude mehr«, murmelte Bento und lauschte dem Klang dieser Worte. Er wiederholte sie immer wieder: Ich bin kein Jude mehr . Ich bin kein Jude mehr . Ich bin kein Jude mehr . Er fröstelte. Das Leben erschien ihm kalt und herzlos. Aber das Leben war schon kalt gewesen, seit sein Vater und seine Stiefmutter gestorben waren. Von heute an war er kein Jude mehr. Vielleicht konnte er als exkommunizierter Jude nun denken und schreiben, wie er wollte, und würde mit Nichtjuden Meinungen austauschen können.
Mehrere Monate zuvor hatte Bento sich insgeheim geschworen, ein gesegnetes Leben von Aufrichtigkeit und Liebe zu führen. Als Nichtjude konnte er nun friedvoller leben. Die Juden hatten immer behauptet, dass wahre Meinungen und ein wahrer Lebensplan, geboren aus Vernunft statt aus prophetischen, mosaischen Schriften, auf dem Pfad der Glückseligkeit nichts zu suchen hätten. Gegen die Vernunft zu wettern ergab für Bento keinen Sinn, und weshalb sollte er nun, da er Nichtjude war, nicht ein Leben der Vernunft leben können?
Als er von der Brücke trat, dachte Bento plötzlich: Was bin ich? Wenn ich kein Jude bin, was bin ich dann? Er suchte in seiner Tasche nach dem Notizbuch, das er immer bei sich trug – dasselbe Notizbuch, in das er damals seine Eintragungen gemacht hatte, als er van den Enden kennen gelernt hatte. Er wandte sich nach rechts in eine kleine Straße, setzte sich ans Ufer der Gracht und suchte nach einer Antwort in seinen schriftlichen Aufzeichnungen der letzten beiden Jahre. Dann las er die Kommentare nach, die seinen Entschluss explizit unterstützten:
Wenn ich mich unter Individuen befinde, welche mit meiner Natur sehr wenig übereinstimmen, so werde ich kaum ohne größere Veränderung meiner selbst mich ihnen anbequemen können.
Der freie Mensch, der unter Unwissenden lebt, sucht,
so sehr als möglich, ihren Wohltaten auszuweichen.
Der freie Mensch handelt niemals arglistig, sondern stets aufrichtig.
Nur die freien Menschen sind einander höchst nützlich
und durch die festesten Bande der Freundschaft
miteinander verbunden.
Und es ist jedem nach dem höchsten Naturrecht erlaubt, klare Vernunft einzusetzen, um sich für ein Leben zu entscheiden, das ihm seiner Meinung nach zum Vorteil gereicht.
Bento klappte sein Notizbuch zu, stand auf und kehrte durch die verlassenen Straßen zu seinem Haus zurück, um seine restlichen Habseligkeiten zu holen. Plötzlich rief eine verzweifelte Stimme hinter ihm: »Baruch Spinoza, Baruch Spinoza.«
Berlin am ersten Frühlingstag war ungefähr so, wie Alfred es von seinem kurzen Aufenthalt im Winter 1919 in Erinnerung hatte. Unter einem granitgrauen Himmel mit beißend kaltem Wind und einem ständigen, leichten Regen, der nie den Boden zu erreichen schien, hockten griesgrämige, in mehrere Kleiderschichten eingemummte Ladenbesitzer in ihren ungeheizten Läden. Die Straße Unter den Linden war menschenleer, aber an jeder Kreuzung von Soldaten bewacht. In Berlin war es gefährlich: Gewalttätige, politische Demonstrationen und Attentate auf Kommunisten und Sozialdemokraten waren an der Tagesordnung.
Am Schluss ihres letzten Treffens vor vier Jahren hatte Friedrich »Krankenhaus Charité, Berlin« auf den Zettel geschrieben, den Alfred zerrissen und weggeworfen hatte, nur um ein paar Minuten später zurückzukehren und die verstreuten Papierfetzen einzusammeln. Alfred trat an einen Wachmann heran und erkundigte sich nach dem Weg zum Krankenhaus. Der Soldat musterte Alfred von Kopf bis Fuß und brummte: »Wo haben Sie Ihr Kreuz gemacht?«
Alfred war verwirrt: »Wie bitte?«
»Wen haben Sie gewählt?«
»Ach so.« Alfred richtete sich zu voller Größe auf. »Ich kann Ihnen sagen, wen ich in Zukunft wählen werde: Adolf Hitler und die komplette antijüdische-antibolschewistische Plattform der NSDAP.«
»Ich kenne keinen Hitler«, antwortete der Soldat, »und von der NSDAP habe ich noch nie gehört. Aber die Plattform gefällt mir. Also, die Charité, warten Sie – die können Sie gar nicht verfehlen –, das ist das größte Krankenhaus in Berlin.« Er deutete auf eine Straße zu seiner Linken. »Die Straße da hinunter, immer geradeaus.«
»Vielen Dank auch. Und merken Sie sich den Namen Hitler. Bald werden Sie nämlich Adolf Hitler wählen.«
Der Pförtner im Empfangsgebäude wusste sofort, wer Friedrich Pfister war. »Ja, natürlich, der Herr Doktor Pfister ist Facharzt für nervöse und seelische Störungen in der Ambulanz. Den Gang rechts hinunter, zur Tür hinaus und geradeaus zum nächsten Gebäude hinüber.«
Im Wartebereich im nächsten Gebäude drängten sich so viele junge und nicht mehr ganz so junge Männer, die noch immer ihre grauen Militärmäntel trugen, dass Alfred eine Viertelstunde brauchte, um sich zum Anmeldeschalter durchzuarbeiten, wo er schließlich die gestresste Sprechstundenhilfe auf sich aufmerksam machen konnte. Er lächelte höflich und rief: »Bitte, bitte, ich bin ein guter Freund von Doktor Pfister. Ich kann Ihnen versichern, dass er mich empfangen wird.«
Sie sah ihm direkt in die Augen. Alfred war ein gutaussehender, junger Mann. »Ihr Name?«
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