Alfred beendete seinen Bericht mit einem wohlgehüteten Geheimnis: »Ich bereite gerade ein wirklich wichtiges Buch vor, das ich Der Mythus des zwanzigsten Jahrhunderts nennen werde. Ich hoffe, dass dieses Werk jedem denkenden Menschen das Ausmaß der jüdischen Bedrohung der westlichen Zivilisation vor Augen führen wird. Ich werde viele Jahre daran schreiben müssen, aber irgendwann rechne ich damit, dass es die Nachfolge der Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts antreten wird , dieses bedeutenden Werkes von Houston Stewart Chamberlain. Nun, das ist meine Geschichte bis 1923.«
»Alfred, ich bin beeindruckt, was du in so kurzer Zeit erreicht hast. Aber du hast noch nicht zu Ende erzählt. Was machst du im Augenblick? Was ist mit Brüssel?«
»Ja, richtig. Ich habe dir alles erzählt, nur das nicht, was du wissen wolltest!« Dann erzählte Alfred ausführlich von seiner Reise nach Paris, Belgien und Holland. Aus ihm unerfindlichen Gründen unterließ er es allerdings, seinen Besuch im Spinoza-Museum in Rijnsburg zu erwähnen.
»Was für ereignisreiche drei Jahre, Alfred! Du musst stolz auf das sein, was du erreicht hast! Es ist mir eine Ehre, dass du mir so sehr vertraust. Aber ich vermute stark, dass du das alles und ganz besonders deine Ziele bis jetzt noch niemandem erzählt hast. Stimmt’s?«
»Stimmt. Stimmt sogar sehr. Ich habe seit unserem letzten Gespräch kein so persönliches Gespräch mehr geführt. An dir ist etwas, Friedrich, das mir den Mut gibt, mich zu öffnen.« Alfred wollte Friedrich gerade erzählen, dass er einige grundsätzliche Dinge an seiner Persönlichkeit ändern wolle, als der Koch mit zwei großen Stücken noch warmer Linzer Torte auftauchte.
»Frisch aus dem Ofen für Sie und Ihren Gast, Herr Dr. Pfister.«
»Wie nett von Ihnen, Herr Steiner. Wie geht es übrigens Ihrem Sohn Hans? Wie fühlt er sich diese Woche?«
»Tagsüber geht es ihm besser, aber seine Alpträume sind immer noch schrecklich. Fast jede Nacht höre ich ihn schreien. Seine Alpträume sind inzwischen meine eigenen Alpträume geworden.«
»In seinem Zustand sind Alpträume normal. Haben Sie Geduld – sie werden nachlassen, Herr Steiner. Sie lassen immer nach.«
»Woran leidet sein Sohn?«, fragte Alfred, nachdem der Koch wieder verschwunden war.
»Ich kann mit dir nicht über einen bestimmten Patienten sprechen, Alfred. Das fällt unter das Arztgeheimnis. Aber so viel kann ich sagen: Erinnerst du dich noch an die vielen Männer, die du im Wartezimmer gesehen hast? Alle, jeder Einzelne hat das gleiche Leiden: Kriegsneurose. Und genauso sieht es in allen Wartezimmern an allen Krankenhäusern Deutschlands aus, die Nervenleiden behandeln. Und alle leiden sehr stark: Sie sind leicht erregbar, können sich nicht konzentrieren, werden von Panikattacken und Depressionen heimgesucht. Sie erleben ihr Trauma immer und immer wieder neu. Tagsüber gehen ihnen fürchterliche Bilder durch den Kopf. In der Nacht sehen sie in ihren Alpträumen, wie ihre Kameraden in Stücke gerissen werden, und sie sehen ihren eigenen nahenden Tod. Auch wenn sie sich als Glückspilze empfinden, weil sie dem Tod entronnen sind, leiden alle unter dem Überlebenden-Syndrom – dem Schuldbewusstsein, überlebt zu haben, während so viele andere starben. Sie grübeln ständig, was sie hätten tun können, um ihre gefallenen Kameraden zu retten, dass sie an ihrer Stelle hätten sterben sollen. Statt stolz zu sein, halten sich viele für Feiglinge. Das ist ein riesiges Problem, Alfred. Ich spreche von einer ganzen Generation deutscher Männer, die betroffen sind. Und natürlich kommt dazu noch die Trauer in den Familien. Wir haben drei Millionen Menschen im Krieg verloren, fast jede Familie in Deutschland hat einen Sohn oder Vater verloren.«
»Und das alles«, setzte Alfred schnell hinzu, »hat dieser vermaledeite, teuflische Friedensvertrag von Versailles noch viel schlimmer gemacht, weil dadurch ihr ganzes Leiden sinnlos geworden ist.«
Friedrich merkte, wie geschickt Alfred die Unterhaltung auf sein Wissensgebiet, die Politik, lenken wollte, ging aber nicht darauf ein. »Eine interessante Spekulation, Alfred. Bevor wir uns damit auseinandersetzen, müssten wir allerdings wissen, wie es in den Wartezimmern der Militärkrankenhäuser in Paris und London aussieht. Du bist vielleicht in genau der richtigen Position, um dieser Frage für deine Zeitung nachzugehen, und, ehrlich gesagt, würde ich mir wünschen, dass du darüber schreibst. Jede Öffentlichkeit, die wir bekommen können, ist hilfreich. Deutschland muss dieses Problem ernster nehmen. Wir brauchen mehr Ressourcen.«
»Du hast mein Wort. Gleich nach meiner Rückkehr werde ich einen Artikel darüber schreiben.«
Während sich beide mit Genuss ihrer Linzer Torte widmeten, wandte Alfred sich an Friedrich: »Du hast deine Fortbildung jetzt also hinter dir?«
»Meine eigentliche Ausbildung, ja. Aber die Psychiatrie ist ein seltsames Gebiet, denn im Gegensatz zu allen anderen medizinischen Fachrichtungen ist man eigentlich nie fertig. Das wichtigste Instrument bist du selbst, und die Arbeit am eigenen Selbstverständnis ist ein endloser Prozess. Ich lerne noch immer. Wenn dir etwas an mir auffällt, das mir helfen könnte, mehr über mich selbst zu erfahren, zögere bitte nicht, mich darauf hinzuweisen.«
»Das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Was könnte mir schon auffallen? Was könnte ich dir sagen?«
»Alles, was du bemerkst. Vielleicht ertappst du mich ja dabei, dass ich dich komisch ansehe, dich unterbreche oder ein unpassendes Wort verwende. Vielleicht missverstehe ich dich oder stelle unbeholfene oder irritierende Fragen … einfach alles. Ich meine es ernst, Alfred. Ich will es hören.«
Alfred war sprachlos, fast aus dem Gleichgewicht gebracht. Es war schon wieder passiert. Er hatte abermals Friedrichs seltsame Welt betreten, in der radikal unterschiedliche Regeln der Gesprächsführung galten – eine Welt, die er sonst nirgendwo fand.
»Nun«, fuhr Friedrich fort, »du sagtest, dass du in Amsterdam warst und von dort aus nach München zurück wolltest. Nun liegt Berlin nicht gerade auf direktem Weg.«
Alfred griff in die Manteltasche und zog Spinozas Theologisch-Politischen Traktat heraus. »Eine lange Zugfahrt war die ideale Gelegenheit, das hier zu lesen.« Er hielt Friedrich das Buch hin. »Ich habe es im Zug ausgelesen. Du hattest so Recht, es mir zu empfehlen.«
»Ich bin beeindruckt, Alfred. Du bist ein wirklich eifriger Schüler. Es gibt nicht viele wie dich. Abgesehen von professionellen Philosophen gibt es kaum jemanden, der nach seinem Studium noch Spinoza liest. Ich dachte eher, dass du unseren alten Bento über deinem neuen Beruf und den Ereignissen, die ganz Europa erschüttern, inzwischen ganz vergessen hättest. Nun, was hältst du von dem Buch?«
»Einleuchtend, mutig, intelligent. Es ist eine vernichtende Kritik des Judentums und des Christentums – oder wie mein Freund Hitler es nennt, dieses ›ganzen religiösen Schwindels‹. Was ich allerdings wirklich in Frage stelle, sind Spinozas politische Ansichten. Er ist zweifellos naiv, wenn er Demokratie und individuelle Freiheit unterstützt. Du brauchst dir nur anzusehen, wohin uns solche Ideen in Deutschland gebracht haben. Mir scheint, als plädierte er geradezu für ein amerikanisches System, und wir wissen doch alle, worauf Amerika gerade zusteuert – auf ein von Mulatten-Mischlingen durchseuchtes Land.«
Alfred schwieg, und die beiden Männer machten sich über die letzten Bissen ihrer Linzer Torte her – eine wahre Delikatesse in jenen mageren Zeiten.
»Aber erzähl mir mehr über die Ethik «, fuhr er fort. » Das war schließlich das Buch, das Goethe so viel Ruhe und Weitblick vermittelt hat und das er ein ganzes Jahr lang mit sich herumgetragen hat. Weißt du noch, dass du mir angeboten hast, mich anzuleiten, mir zu helfen, wie ich es am besten anpacken soll?«
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