Alfred stieß geflüsterte Verwünschungen aus, wandte sich wieder dem Bücherschrank zu und beugte sich, so weit er konnte, über die Absperrkordel, um die Titel von Spinozas Büchern zu entziffern. Ein wenig zu weit. Er verlor das Gleichgewicht und fiel schwer gegen den Bücherschrank. Der Aufseher, der auf seinem Stuhl in der Ecke saß, warf die Zeitung zur Seite und rannte herbei, um nachzusehen, ob die Bücher Schaden genommen hatten. Er schimpfte: »Was machen Sie denn da? Sind Sie verrückt? Die Bücher sind unbezahlbar!«
»Ich wollte nur die Titel lesen.«
»Warum wollen Sie die wissen?«
»Ich bin Philosoph. Ich möchte wissen, woher er seine Ideen genommen hat.«
»Zuerst sind Sie ein Zeitungsfritze, und jetzt sind Sie auf einmal ein Philosoph?«
»Sowohl als auch. Ich bin sowohl Philosoph als auch Hauptschriftleiter einer Zeitung. Kapiert?«
Der Aufseher starrte ihn feindselig an.
Alfred starrte zurück, starrte auf seine hängenden Lippen, die dicke, missgebildete Nase, die Haare, die aus seinen unsauberen, fleischigen Ohren sprossen. »Ist das so schwer zu verstehen?«
»Ich verstehe eine ganze Menge.«
»Verstehen Sie, dass Spinoza ein wichtiger Philosoph ist? Warum haben Sie die Bücher so weit hinten? Warum gibt es keinen Katalog der ausgestellten Bücher? Richtige Museen sollten die Exponate ausstellen und sie nicht verstecken.«
»Sie sind nicht hier, um mehr über Spinoza zu erfahren. Sie sind hier, um ihn zu vernichten. Um zu beweisen, dass er seine Ideen gestohlen hat.«
»Wenn Sie auch nur die geringste Allgemeinbildung hätten, wüssten Sie, dass jeder Philosoph von anderen Philosophen, die vor ihm lebten, beeinflusst und inspiriert wird. Kant hat Hegel beeinflusst; Schopenhauer hat Nietzsche beeinflusst; Platon hat alle beeinflusst. Es gehört zum Allgemeinwissen, dass …«
»Beeinflusst, inspiriert. Genau darum geht es, genau darum: Sie haben eben nicht ›beeinflusst‹ gesagt. Und Sie haben auch nicht ›inspiriert‹ gesagt. Sie haben genau gesagt: ›woher er seine Ideen genommen hat.‹ Das ist ein Unterschied.«
»Ach was. Soll das vielleicht ein talmudischer Disput werden? Das gefällt euch Leuten. Sie wissen verdammt gut, was ich meinte …«
»Ich weiß genau, was Sie meinten.«
»Was ist das hier eigentlich für ein Museum? Sie erlauben Einstein, einem von euch, den ganzen Tag hier herumzulungern, damit er sich die Bibliothek ansehen kann, und die anderen halten Sie auf einen Meter Abstand.«
»Ich verspreche Ihnen, Herr Philosoph-Verleger Rosenberg – sollten Sie einmal einen Nobelpreis gewinnen, können Sie jedes Buch in dieser Bibliothek gern an Ihre Brust drücken. Und jetzt schließt das Museum. Verschwinden Sie.«
Alfred hatte das Gesicht der Hölle gesehen: einen jüdischen Aufseher mit Amtsgewalt über einen Arier. Juden versperrten Nichtjuden den Zugang, Juden sperrten einen großen Philosophen ein, der Juden verachtete. Diesen Tag würde er niemals vergessen.
** Das Spinozahaus/Chirurgenwohnung von 1660; der Philosoph B. de Spinoza wohnte hier von 1660–1663.
21
AMSTERDAM, 27. JULI 1656
Zwei Straßen von der Talmud-Torah-Synagoge entfernt verstaute Bento mit Hilfe von Dirk, seinem Studienkollegen an der Lateinschule van den Endens, seine vierzehnbändige Büchersammlung in eine große Holzkiste und baute dann das Himmelbett der Spinoza-Familie ab. Anschließend schafften die beiden Bett und Bücher auf einen Lastkahn, der an der Nieuwe Herengracht lag, um die Fracht zu van den Endens Haus zu transportieren, wo Bento vorübergehend Unterkunft fand. Dirk stieg auf den Kahn, um Bentos Habseligkeiten zu begleiten, während Bento seine restlichen Sachen einpackte – zwei Hosen, die Schuhe mit den Messingschnallen, drei Hemden, zwei weiße Krägen, Unterwäsche, eine Pfeife und Tabak. Er stopfte alles in eine Tasche, die er selbst zu van den Endens Haus bringen wollte. Die Tasche wog nicht viel, und Bento schätzte sich glücklich, dass er so wenige Besitztümer hatte. Ohne das Bett und die Bücher konnte er ein vollkommen ungebundenes Nomadenleben führen.
Bento sah sich ein letztes Mal im Zimmer um, packte sein Rasiermesser, die Seife und das Handtuch ein und entdeckte dann auf einem oberen Regal seine Tefillin . Seit dem Tod seines Vaters hatte er sie nicht mehr angerührt. Er griff nach den zwei kleinen Lederkästchen mit den Riemen und nahm sie behutsam in die Hand – vielleicht zum letzten Mal, dachte er bei sich. Was für seltsame Gegenstände! Und auch seltsam, überlegte er, dass beide ihn einerseits abstießen und andererseits lockten. Er hielt die Lederkästchen hoch und betrachtete sie. An dem Kästchen, das mit Rosh – für den Kopf – markiert war, hingen zwei Lederriemen. Am Yad -Kästchen – für den Arm – war ein langer Riemen befestigt. In den hohlen Kästchen steckten Verse aus der Heiligen Schrift auf Pergament. Und natürlich stammte alles – das Leder, aus dem die Kästchen gefertigt waren, die Sehnen, die zur Befestigung dienten, das Pergament, die Riemen –, alles von koscheren Tieren.
Ein Vorfall von vor fünfzehn Jahren fiel ihm ein. Als Kind hatte er oft mit unbändiger Neugier zugesehen, wenn sein Vater vor dem Frühstück sein Tallit anlegte und die Tefillin band – ein Ritual, das sein Vater sein ganzes Leben lang am Morgen eines jeden Werktages praktiziert hatte (am Sabbat wurden Tefillin natürlich niemals angelegt). Eines Tages hatte sein Vater sich zu ihm umgedreht und gefragt: »Du möchtest wissen, was ich hier mache, wie?«
»Ja!«, hatte Bento gerufen.
»Damit folge ich wie bei allem anderen der Thora«, hatte sein Vater ihm erklärt. »Die Worte im fünften Buch Mose schreiben uns folgendes vor: ›Und sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sollen dir ein Denkmal vor deinen Augen sein.‹«
Wenige Tage später kam sein Vater mit einem Geschenk nach Hause – mit ebenjenen Tefillin , die Bento nun in der Hand hielt.
»Das ist für dich, Baruch, aber nicht für jetzt. Wir werden sie aufbewahren, bis du zwölf bist, und dann werden du und ich ein paar Wochen vor deiner Bar Mitzwa beginnen, gemeinsam Tefillin anzulegen.« So begeistert war Bento von der Aussicht, zusammen mit seinem Vater Tefillin anzulegen, und so häufig bombardierte er seinen Vater mit Fragen zu den einzelnen Handgriffen, dass er sich schon nach ein paar Tagen geschlagen gab. »Heute, aber nur dieses eine Mal, werden wir es üben, und dann, danach werden wir die Tefillin zur Seite legen, bis deine Zeit gekommen ist. Einverstanden?« Bento nickte aufgeregt.
Sein Vater fuhr fort: «Wir werden es gemeinsam üben. Du machst genau das, was ich auch mache. Du legst das Yad -Kästchen so auf deinen linken Oberarm, dass es zum Herzen zeigt, und dann wickelst du die Lederstreifen sieben Mal um deinen Arm bis zum Handgelenk. Sieh her – schau mir zu. Denk daran, Baruch, genau sieben Mal – nicht sechs Mal, nicht acht Mal –, denn das haben uns die Rabbiner gelehrt.«
Dann sang sein Vater den vorgeschriebenen Segen:
»Baruch Atah Adonai Eloheinu Melech Haolam Asher Kidishanu B’mitzvotav V’tziu L’haniach Tefillin.«
( Gesegnet seist du, Gott, unser Gott, Herrscher der Welt, der uns mit seinen Geboten geheiligt und uns befohlen hat, Tefillin anzulegen . )
Sein Vater schlug das Gebetsbuch auf, gab es Bento und sagte: »Hier: Du liest das Gebet.« Aber Bento nahm das Buch nicht. Stattdessen legte er den Kopf so weit in den Nacken, dass sein Vater seine geschlossenen Augen sehen konnte, und dann wiederholte er die Gebete genauso, wie sein Vater sie gesprochen hatte. Hatte Bento ein Gebet – oder irgendeinen anderen Text einmal gehört –, vergaß er es nie wieder. Sein Vater strahlte und setzte ihm einen zarten Kuss auf beide Wangen. »Ach, was für eine Mitzwa , was für ein Geist. In meinem Herzen weiß ich, dass du eines Tages einer der größten aller Juden sein wirst.«
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