Lucius war gerührt über dieses Geschenk. Dieses Buch musste seinen Bruder eine ganz schöne Stange Geld gekostet haben. Er würde sich aus seiner Kriegsbeute revanchieren, schwor er sich. Fast feierlich steckte er die Buchrolle wieder in ihren Behälter zurück. Er würde Gaius vermissen, seinen großen, vernünftigen Bruder.
Er ging in sein Zimmer, um seine Ausrüstung zu packen. Einfache Leinentunicen und Wolltunicen, Tunicen für den Alltag, zwei gefärbte Tunicen für besondere Anlässe, zwei Kapuzenumhänge, Bade- und Rasiersachen, Schreibutensilien, Papyrii, Wachstafeln und Griffel. Lucius berührte jedes Stück mit der Hand und zählte im Kopf die Dinge noch einmal auf, die er brauchte.
Schon morgen würde er nach Lugdunum aufbrechen, um zu den Adlern zu gehen. Er konnte es sich gar nicht richtig vorstellen und hatte ein flaues Gefühl im Magen. Am besten würde er sich mit einem Buch ablenken. Nicht mit der Aeneis , nein, die würde er sich noch aufsparen. Er ging in die Bibliothek und zog aufs Geratewohl ein Buch heraus und begann zu lesen. Nach wenigen Zeilen stoppte er. Ein ungutes Gefühl hatte ihn beschlichen. Das Gefühl, beim Packen etwas vergessen zu haben, aber was? Er ließ das Buch sinken und überlegte. Am besten wäre es, sicherheitshalber noch einmal nachzuschauen. Er ging wieder hinauf in sein Zimmer und sah das Bündel durch. Jupiter sei Dank alles da! Erleichtert verschloss er das Bündel und ging wieder hinunter. Das mulmige Gefühl, etwas vergessen zu haben, verließ ihn jedoch immer noch nicht. Drei Mal ging er in sein Zimmer, um das Bündel wieder und wieder zu kontrollieren. Als er nach dem dritten Mal die Treppe herunterkam, sah er seinen Vater mit Hektor im Atrium stehen. Hektor zuckte erschrocken zusammen, als er Lucius auf der Treppe sah, und schaute betreten zu Boden.
Gnaeus Marcellus sah kurz zu ihm herüber. „Ah, Sohn, du bist wieder da. Komm mit ins Arbeitszimmer!“, wies er ihn wie selbstverständlich an. Als sei die Tatsache völlig unerheblich, dass mehr als ein Jahr vergangen war, seit er das letzte Mal mit seinem Sohn gesprochen hatte. Lucius beeilte sich, ihm zu folgen. Gnaeus Marcellus setzte sich hinter den Schreibtisch und fragte barsch, noch ehe Lucius Platz nehmen konnte: „Musterung bestanden?“
„Äh … ja!“
„Gut, gut!“, sagte der Vater gedehnt und sprang wieder auf, um zwei Becher Wein einzuschenken. Er schien nach Worten zu suchen und forderte Lucius erst einmal auf, sich zu setzen. Da es am Nachmittag bereits kühl war, rückte Lucius seinen Stuhl näher an das Kohlebecken und nahm dann einen der Becher entgegen.
„Mein Sohn!“, begann Gnaeus bedeutsam, nachdem er sich wieder gesetzt hatte. „Morgen beginnt für dich ein neues Leben! Ein Leben bei den Adlern!“ Er machte eine Pause.
Bei Mars, dachte Lucius, was für ein theatralischer Beginn.
„Du hast dich im vergangenen Jahr tapfer geschlagen und deine Aufgaben gemeistert. Das war bereits mehr, als ich erwartet hätte, und ich wage zu hoffen, dass du im Dienste der Legion deine dignitas und die unserer Familie vollends wiederherstellen wirst.
Du wirst mit vielen Schwierigkeiten zu kämpfen habe. Körperlich habe ich dich so gut es ging darauf vorbereiten lassen. Jetzt habe ich aber noch ein paar wichtige Ratschläge für dich. Du wirst dich gegenüber Centurionen und Soldaten durchsetzen müssen. Deine Untergebenen werden versuchen, deine Schwäche zu erkennen, und sie für sich ausnutzen wollen. Sei zu ihnen hart und streng, aber gerecht! Fordere nichts von ihnen, was du nicht selber bereit bist zu leisten! Zeige ihnen, dass du ihnen vertraust und dass sie dir vertrauen können! Und wenn deine Autorität und dein Rang alleine nicht weiterhelfen, nimm die Vitis, den Stock der Centurionen, zur Hilfe! Einige Hiebe bringen auch den lahmsten Soldaten auf Trab. Sei bereit, dich auch körperlich durchzusetzen! Du hast Boxen und Ringen gelernt, wende es an! Sei dir deines Platzes in der Hierarchie bewusst! Du bist der Jüngste und Unerfahrenste der Centurionen. Lerne von den anderen, ertrage ihre möglichen Schikanen, aber sei selbstbewusst und versuche dich durchzusetzen!“
Lucius hörte ihm aufmerksam zu und versuchte, sich seine Worte einzuprägen. Sein Vater machte wieder eine Pause und trank einen Schluck.
„Der Schlüssel zu deinem Erfolg ist, dass du es alleine schaffst, ohne Hilfe. Nur dann kannst du dich durchsetzen. Du kannst ab morgen nicht mehr mit meiner Hilfe rechnen. Alles, womit ich dir helfen konnte, habe ich getan. Meine Verbindungen, um dir den Weg zu deiner Centurionenstelle zu ebnen, meine Erfahrung für deine vormilitärische Ausbildung. Jetzt kommt es auf dich an. Du wirst es nur schaffen, wenn niemand da ist, zu dem du gehen kannst, wenn es nicht so läuft, wie du es gedacht hast. Den Respekt deiner Männer musst du dir ganz alleine verdienen.“
Lucius schluckte. Er hatte gar nicht darüber nachgedacht, ob sein Vater ihm bei der Legion weiterhelfen würde, und hatte es auch gar nicht erwartet, aber es so deutlich gesagt zu bekommen, war etwas anderes.
„Dies gilt ebenso für finanzielle Dinge!“, fuhr sein Vater fort. „Du bekommst Sold und Anteil aus der Kriegsbeute, das muss für dich reichen!“, sagte er mit Nachdruck. „Ich habe in meinem Testament verfügt, dass dein Erbe so lange von deinem Bruder verwaltet wird, bis du die Adler verlässt. Solange du unter den Adlern dienst, wirst du von mir kein Kupferas bekommen. Alles, was du zum Leben brauchst, wirst du dir selbst verdienen müssen. Du bist schließlich kein adliger Offizier, der gewohnt ist, in Luxus zu leben, sondern ein Centurio, das Rückgrat und Herzstück der römischen Armee. Ein Centurio bekommt nichts geschenkt, sondern verdient sich seinen Rang, seine Privilegien und sein Geld durch Einsatz und Leistung. Merke dir das, Lucius!“
Er machte eine Pause und Lucius schickte sich an aufzustehen, als sein Vater plötzlich in einem ungewohnt milden Tonfall fortfuhr: „Warte, mein Sohn! Noch ein Letztes. Ich habe ein Geschenk für dich.“
Er wies feierlich auf einen Tisch an der Wand, auf dem ein kunstvoll gearbeiteter Schrein stand. Ein Schrein, den man auf Reisen mitnehmen konnte, um unterwegs den Hausgöttern zu opfern.
„Du bist kein pater familias , aber du führst ab jetzt dein eigenes Haus. Vergiss die Götter und deine Ahnen nicht, erweise dich ihrer würdig!“
Lucius nickte ergriffen. Ich werde mich ihrer würdig erweisen. Ich werde mir alles selbst erarbeiten, und wenn ich dann Wein aus Kampanien trinken kann, weiß ich, dass ich mir das selbst verdient habe. Als er zu seinem Vater sah, um ihm zu danken, hatte dieser wieder seine gewohnt distanzierte Miene aufgesetzt und schnitt ihm streng das Wort ab: „Nun aber genug der unnützen Schwafeleien! Wir erwarten schließlich Gäste und es ist sicher noch etwas vorzubereiten!“
Kurz darauf trafen die ersten Gäste zum Festmahl ein: Magistratskollegen aus der Stadt, Kaufleute, mit denen Gnaeus Marcellus Geschäfte machte oder deren Patron er war. Außerdem noch ehemalige Kampfgefährten aus der Umgebung. Saxum war, Mars sei Dank, nicht darunter. Er war, wenn er betrunken war, eine echte Plage. Und er war eigentlich immer betrunken. So sehr Lucius die Ratschläge des alten Veteranen zu schätzen gelernt hatte, so wenig vermisste er seine Gesellschaft.
Lucius begrüßte die Gäste am Eingang und wies ihnen den Weg ins Atrium. Er fühlte sich ein wenig unwohl in seiner Toga, da er sie bislang, wenn überhaupt, nur in der Stadt bei offiziellen Anlässen getragen hatte. Und die vergangenen zwölf Monate hatte er ausschließlich auf dem Hof verbracht, also war das eine Weile her. Dabei hatte er sich vorgestellt, wenn er erst die Toga der Männer angelegt hätte, würde er sie dauernd anbehalten. Na ja, sie war sowieso zu unbequem und zu unpraktisch, um sie im Alltag zu tragen. Wie sagte es der Dichter? Die Römer, das Volk in Toga. Marcus hatte erzählt, in Rom werde die Toga so selten getragen, dass Gesetze erlassen wurden, die das Tragen der Toga in der Öffentlichkeit vorschrieben.
Читать дальше