Er sah sie schweigend an. Sie reckten die Köpfe, um deutlicher zu hören, und das Lampenlicht ließ sie wie Bronzestatuen aussehen.
„Ihr wißt, wie wohl es uns ergangen ist, seit ihr euch mir anvertraut habt. Ihr wißt, wie kräftig wir sind. Zum erstenmal seit Generationen kennen die Menschen, die sich mir angeschlossen haben, keinen Hunger, keine Willkür und keine Gewalttätigkeit. Wir haben Ordnung und Disziplin und Selbstbeherrschung gelernt und haben die selbstherrlichen Unruhestifter unter uns zum Schweigen gebracht.
Die Welt hat uns bewundert. Aber jeder, der Bewunderung auslöst, erntet auch Haß, Eifersucht und Angst. Mächtige Herrscher warten nun darauf, uns zu vernichten.“
Die Khane sahen einander bedeutsam und ernst an. Manche von ihnen wußten, weshalb sie vorgeladen worden waren, und ihre Gesichter verdunkelten sich in trotziger Ratlosigkeit. Keiner sprach ein Wort, und doch schien ein tiefes Murmeln durch die Jurte zu brausen.
Dann richteten sie die Blicke wieder gespannt auf Temudschin, dessen Augen in grimmiger Erregung funkelten.
„Man hat mich verraten, und durch diesen Verrat droht euch und euren Völkern der Tod.“
Er legte eine kurze Pause ein, ehe er fortfuhr: „Mein Pflegevater Ung Khan, der zum Spaß auch Wang Khan genannt wird, weil er sich so verächtlich vor dem Volk des Goldenen Reiches erniedrigt, hat das Freundschaftsgelöbnis mit meinem Vater und seinen Eid der väterlichen Huld mir gegenüber gebrochen. Er hat gesehen, daß wir mächtig und ehrfurchtsgebietend geworden sind. Er hat bemerkt, daß wir nicht länger Sklaven unter der Peitsche der Elemente und mächtigerer Menschen sind. Deshalb hat er sich in den Kopf gesetzt, daß wir eine Bedrohung für ihn und seine Gewinngier darstellen. Er will uns wieder zu hungernden Horden machen, die von seinem Überfluß abhängen und, von Hunger und Schwäche gezwungen, ihm dienen, sooft es ihm beliebt.“
Die meisten Khane liefen zornesrot an. Auf ihre Gesichter war seine eigene maßlose Erregung übergesprungen. Aber einige wenige sahen beklommen aus. Sie schlugen die Augen nieder, machten sich an ihren Kleidern oder den Ringen an ihren Fingern zu schaffen. Die meisten Anwesenden brüllten rauh auf, aber eine Minderheit blieb stumm und harrte verschreckt der Fortsetzung der Rede.
„Wir werden diese Schmach, diese Versklavung, diese Drohung nicht dulden!“ rief einer der Khane, der Temudschin verehrte. Seine Begleiter murmelten wütend ihre Zustimmung. Andere aber schwiegen still und sahen einander verstohlen an. Unter ihnen befand sich Temudschins eigenes Volk, die grauäugigen Bourchikounen, die wie alle Verwandten dem Sohn aus ihrem eigenen Fleisch und Blut den Erfolg und Reichtum nicht gönnten. Viele von ihnen waren gewaltsam von Temudschin unterworfen und mit Drohungen dazu gezwungen worden, sich dem Bündnis anzuschließen. Wäre er ein Fremder gewesen, hätten sie ihm wohl kaum Feindschaft entgegengebracht. Da er jedoch ihrem eigenen Volke entsprungen war, haßten sie ihn insgeheim und fühlten sich gedemütigt und entehrt.
Temudschins funkelnde Augen erfaßten ein Gesicht nach dem anderen, und er sah diese beginnende Auflehnung wohl. Er wählte einen kräftigen Mann unter den Unzufriedenen aus und fixierte ihn mit durchdringendem Blick.
„Borchu! Dein Vater war der Vetter meines Vaters! Du bist mit mir verwandt. Was hast du zu sagen?“
Borchu, ein hagerer, schwarzhaariger Mann mittleren Alters, der keine Furcht kannte, hob die Augen zu Temudschins Gesicht und sagte im Ton vernünftiger Überlegung:
„Was können wir durch Widerstand oder Angriff gewinnen? Ung Khan ist der Mächtigste unter den Koraiten. Seine Heerscharen sind bedeutend zahlreicher als wir alle zusammen. Du hast gesagt, daß Ung Khan uns zürnt. Aber du weißt genau, daß nur ein Wunder bewirken könnte, daß wir uns erfolgreich gegen ihn behaupten. Und ich“, fügte er trocken und mit einem vielsagenden Lächeln für seine Begleiter hinzu, „glaube nicht an Wunder.“
Atemlose Stille setzte ein. Die Abtrünnigkeit der Bourchikounen stempelte sie zu einem abgesonderten, feindlichen Lager, das von den anderen wütende, vorwurfsvolle Blicke erntete.
„Das ist Feigheit!“ schrie schließlich ein Khan.
Borchu wandte dem Sprecher langsam den eindringlichen Blick zu. „Feigheit?“ fragte er sanft. Er traf Anstalten, sich zu erheben. Seine Hand lag auf dem Schwertknauf. „Wer spricht hier von Feigheit?“
Der Khan war ein junger, leicht entflammbarer Mann. „Ich!“ rief er, und seine Liebe zu Temudschin färbte seine Wangen rot. „Und Verrat! Wer immer anderer Ansicht ist als unser Gebieter, ist ein Verräter!“
Der saure Schweiß der Erregung war deutlich in der Jurte zu riechen. Jeder bewegte sich und murmelte. Jeder Nasenflügel weitete sich, als röche er Blut. Jedes Auge blitzte kampflustig auf. Sekundenlang schien es, als sollte es zu einem Handgemenge kommen.
Dann lachte Temudschin laut und schallend, und der Klang war wie kaltes Wasser, das in die grimmigen Gesichter schlug.
„Was seid ihr doch für Narren, in dieser Stunde schrecklichster Gefahr untereinander zu zanken! Ich habe euch zu mir gebeten, damit wir beratschlagen und planen können, aber nicht, damit ihr eure kleinlichen Meinungsverschiedenheiten unter meinen Augen austragt! Ich werde sprechen. Ich werde die Anklage auf Verrat oder Feigheit erheben!“ Sein unbarmherziger, hypnotischer Blick zwang sie in seinen Bann. „Aber soviel ich sehe, befindet sich hier weder ein Verräter noch ein Feigling. Es sei denn, er bezichtigt sich selbst.“
Er wartete ab. Die Bourchikounen waren noch immer empört und beleidigt. Vor seinem zwingenden Blick jedoch versanken sie in Schweigen und wandten die Augen ab. Sie haßten Temudschin erbitterter als je, aber aus unerklärlichen Gründen wagten sie nicht, zu murren oder seinen Blick zu erwidern.
Jeder Mann gab hörbar seufzend nach. Die Kluft zwischen den beiden Lagern aber blieb bestehen.
Temudschin ergriff wieder das Wort. „Sprich unverzagt, Borchu. Ich möchte deine Meinung hören.“
Borchu zögerte. Nachdem er aber aus den Blicken seiner Stammesbrüder neuen Mut geschöpft hatte, hob er kühn und gelassen zu reden an:
„Es ist meine aufrichtige Meinung, daß wir aus einem offenen Kampf mit Ung Khan nichts zu gewinnen haben. Alles, was wir unter deiner weisen Führung errungen haben“, und wieder wurden Gesicht und Stimme spöttisch, „werden wir verlieren. Wer sind wir, daß wir es wagen dürfen, Ung Khan herauszufordern? Er ist uns zahlenmäßig unendlich überlegen. Wir haben keine militärischen Stützpunkte außer unseren eigenen Stämmen. Und Ung Khan verfügt nicht nur über das Übergewicht seiner vielköpfigen, bezahlten Heerscharen, sondern er weiß auch die Unterstützung der türkischen Städte hinter sich. Und vielleicht sogar die schrecklichen Reiche Kathais.“ Er legte eine wirkungsvolle Pause ein. „Wir sind eine Handvoll Männer, die eine ganze Welt herausfordern“, setzte er düster hinzu. „Ein Mückenschwarm, der einem Falkenzug trotzen will!“
Wieder erhob sich lautes, bedrohliches Gemurmel aus Temudschins Lager, und viele Hände tasteten nach den Säbeln. Temudschin aber forderte mit erhobener Hand Schweigen. Er sah niemanden außer Borchu.
„Und“, sagte er mit einer Stimme, in der spöttische Hochachtung mitschwang, „was willst du angesichts dieser Bedrohung tun?“
Borchu zuckte die Achseln und ließ den Blick hilfesuchend zu seinen Stammesgenossen schweifen.
„Ich empfehle, daß wir uns augenblicklich der Oberhoheit Ung Khans unterwerfen, unsere Treueide zu ihm als unserem Kha-Khan erneuern, ihm den Gehorsam geloben und ihm versichern, daß wir keinerlei Bedrohung für ihn darstellen, und nichts weiter als seine Diener sind.“
Jetzt machte sich offene Empörung in Temudschins Lager bemerkbar und viele sprangen auf. Wieder aber brachte er sie mit einer Geste und einem Blick zum Schweigen.
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