»Jetzt bringt er sie schon in ihren Zimmern um«, hörte Rupert einen Mann neben sich sagen. »Bisher hat er’s immer unter freiem Himmel getan.«
»So hat er mehr Zeit, ihnen die Eingeweide rauszuschneiden«, vermutete ein anderer. »Kann ihn keiner dabei stören.«
»Trotzdem seltsam«, meinte der erste. »Anders als sonst.«
Rupert hatte sich mittlerweile bis zur Tür von Edmunds Wohnung vorgearbeitet und suchte in der Manteltasche nach dem Schlüssel, den er vor gut zwei Wochen eingesteckt hatte. Anders als das Springmesser, mit dem Michael erstochen worden war, hatte Rupert den Wohnungsschlüssel und den Schlüssel für die Bretterbude nicht in der Themse versenkt. Da die Tür nach wie vor verschlossen und das Schloss nicht beschädigt war, nahm Rupert an, dass Edmund in der Zwischenzeit nicht zurückgekehrt war. Denn dass er bei seiner überstürzten Flucht einen Zweitschlüssel eingesteckt hatte, erschien Rupert nicht sehr wahrscheinlich.
»Sie wollen doch nicht etwa da rein, Boss?«, fragte Gray, der sich zwischen dem Eingang und dem Fenster postiert hatte.
»Du bleibst vor der Tür und hältst Wache«, antwortete Rupert, öffnete mit dem Schlüssel die Tür und trat ein.
Obwohl das Morgenlicht durchs milchige Fenster schien, war es in dem Raum so dunkel, dass Rupert eine Weile brauchte, bis er im Inneren etwas erkennen konnte. Doch nichts hatte sich seit dem letzten Mal verändert, jedenfalls konnte Rupert nichts Verdächtiges entdecken. Das Bett machte den Anschein, als hätten Heather und Celia erst vor wenigen Minuten darin gelegen. Die leere Garderobe sah aus wie zuletzt, der schäbige Ohrensessel stand unverändert an Ort und Stelle, und auch der Kamin war offenbar in der Zwischenzeit nicht befeuert worden. Obwohl er es nicht hätte beschwören können, wusste Rupert auf Anhieb, dass Edmund seit seinem Verschwinden nicht mehr hier gewesen war.
»Boss!«, hörte er in diesem Augenblick Grays Stimme vor der Tür. »Dicke Luft!«
»Was machst du da, Junge?«, fragte kurz darauf eine Männerstimme.
»Nichts«, antwortete Gray und klopfte leise gegen die Fensterscheibe.
»Wo kommt ’n plötzlich der Schlüssel her?«
»Keine Ahnung, Sir. Seh ich zum ersten Mal.«
»Verdammter Lügner!«, schimpfte der Mann. »Soll ich die Polizei holen? Sind ja genug Constables im Hof.«
Rupert ärgerte sich, dass er den Schlüssel außen hatte stecken lassen, ging zur Tür, öffnete sie ruckartig und schaute in das Gesicht eines kleinen, etwa vierzigjährigen Mannes, den er noch nie zuvor im Miller’s Court gesehen hatte.
»Wer sind Sie?«, fragte Rupert forsch, obwohl ihm das Herz in die Hose sackte. »Warum keifen Sie hier so herum?«
»Und wer, bitte schön, sind Sie, Sir?«, konterte der Mann, doch seine Stimme klang beim Anblick des respektabel, beinahe vornehm gekleideten Rupert nicht ganz so feindselig. »Mein Name ist McCarthy. Ich bin der Eigentümer dieses verfluchten Hauses und vermiete die Wohnungen hier. Auch wenn in Zukunft vermutlich niemand mehr im Miller’s Court wohnen will.« Er deutete hinüber zur Nummer 13 und seufzte düster.
»Wissen Sie, wo ich Mr. Edmund Brooks finde?«, antwortete Rupert absichtlich mit einer Gegenfrage.
»Was wollen Sie von ihm?«
»Er schuldet mir Geld.«
McCarthy lachte verächtlich und rief: »Dann stellen Sie sich hinten in der Schlange an, Sir! Seine Miete hat Brooks seit Wochen nicht gezahlt. Und beinahe ebenso lange hab ich ihn nicht gesehen. Wie viel schuldet er Ihnen?«
»Fünfzig Pfund«, antwortete Rupert und erntete ein erstauntes Pfeifen. »In der Wohnung ist niemand, und seine Kleider hat er anscheinend auch mitgenommen«, setzte Rupert hinzu, zog den Schlüssel heraus und reichte ihn dem Vermieter.
»Wenn Sie Brooks tatsächlich fünfzig Pfund geliehen haben«, sagte McCarthy grinsend und steckte den Schlüssel ein. »Dann sind Sie weitaus dümmer, als Sie aussehen, Sir.«
»Er hat das Geld gestohlen.«
»Verstehe.« McCarthy nickte wissend und sagte: »Kein Wunder, dass der Kerl über alle Berge ist.«
»Gibt es nicht einen Holzschuppen, der zu der Wohnung gehört?«, fragte Rupert und hoffte, dass der Vermieter nicht nachfragte, woher er den Schlüssel hatte und wieso er von dem Verschlag wusste. Rupert klopfte dem Mann vertraulich auf die Schulter und deutete nach hinten. »Vielleicht hält er sich dort versteckt.«
Der Vermieter schnaufte ungläubig und ging zum Bretterverschlag. »Wenn Brooks sich dort verkrochen hat, dann ist er nicht nur ein Taugenichts, sondern auch noch ein Idiot.« Er lachte, rüttelte an der verschlossenen Tür und zuckte mit den Achseln.
Rupert bückte sich, als hätte er etwas auf dem Boden entdeckt, zog rasch den kleinen Schlüssel aus der Manteltasche, hielt ihn dem Vermieter vor die Nase und fragte: »Vielleicht passt der? Lag auf dem Boden.«
»Seltsam!«, knurrte McCarthy, schüttelte verwirrt den Kopf und öffnete die Tür. »Sehen Sie? Kein Brooks!«, sagte er und wies auf den Stapel Brennholz, der ordentlich auf dem geplätteten Erdboden vor der Steinwand aufgeschichtet war. Die Matratze und der kleine Tisch waren hochkant an die Seitenwand gelehnt. Der Stuhl stand neben dem Eingang. Nichts hatte sich in den letzten beiden Wochen hier verändert. Niemand war von den Toten auferstanden. Michael Kidneys Grab war unberührt.
»Kein Brooks«, bestätigte Rupert, wandte sich ab, weil ihn die Erinnerung wie ein Schlag traf, und ging zurück in den Hof, wo die Constables inzwischen damit begonnen hatten, die Schaulustigen aus dem Hof zu scheuchen.
Rupert verließ gemeinsam mit Gray und den anderen Neugierigen den Hof. Als er sich unter dem Torbogen ein letztes Mal umwandte, sah er McCarthy neben einem Constable vor Edmunds Wohnung stehen und nachdenklich auf einen Schlüssel in seiner Hand starren.
»Nach Hause, Boss?«, fragte Gray.
»Nach Hause«, bestätigte Rupert und verließ die Dorset Street, um sie nie wieder zu betreten.
Jack the Ripper wurde, wie hinlänglich bekannt, nie gefasst. Und Rupert sollte niemals erfahren, ob der grausame Mord an Ginger tatsächlich nur ein böser Zufall war oder ob er mit den seltsamen Geschehnissen zusammenhing, die in den Wochen zuvor so unvermittelt über Rupert hereingebrochen waren. Der Mord im Miller’s Court war das abscheulichste, zugleich aber auch das letzte Verbrechen des Rippers. Wer der Mörder war, was nach dem November 1888 aus ihm wurde und wieso er nicht weitermordete, darüber wurde damals wie heute viel spekuliert. Die Zahl der Verdächtigen ist ebenso abenteuerlich wie die Erklärungsansätze mancher Theorien, die den Mörder bis ins Königshaus hinein vermuteten. Auch wenn es schwer zu ertragen ist: Es gibt Fragen, auf die man keine Antworten findet. Und die sogar unergründlicher werden, je eingehender man sich mit ihnen befasst.
Bis heute zählt Elizabeth Stride, genannt Long Liz, zu den sogenannten Kanonischen Fünf, also jenen fünf Frauen, die mit höchster Wahrscheinlichkeit im Herbst 1888 von Jack the Ripper getötet wurden. Zwar gab es immer wieder Stimmen, die darauf hinwiesen, dass die Tat nicht ins übliche Muster des Frauenmörders passte, und einige Autoren und Kriminalhistoriker mutmaßten sogar, Elizabeths Freund Michael könne seine Hände bei dem Mord im Spiel gehabt haben. Beflügelt wurde diese Deutung durch die Tatsache, dass die Adresse in der Dorset Street, die Michael Kidney vor dem Coroner zu Protokoll gegeben hatte, offenbar nicht stimmte und er stattdessen zusammen mit einer jungen Russin namens Annie in der Devonshire Street in Mile End lebte. Auch dass der Mann anschließend wie vom Erdboden verschluckt war und nie wieder in Erscheinung trat, gilt manchen »Ripperologen« als bedeutsamer Hinweis. Dennoch wird der Mord in der Berner Street von den meisten Experten weiterhin Jack the Ripper zugeordnet.
Читать дальше