Orry brauste auf und fing an zu streiten. Clarissa berührte seine Hand. »Cooper hat recht. Keine weiteren Diskussionen mehr, bis wir zu Hause sind.« Einige Minuten später versuchte sie, ihren Arm um Charles’ Schultern zu legen. Er entzog sich ihr. Sie blickte ihren ältesten Sohn an und schüttelte den Kopf.
Als sie in Mont Royal ankamen, verprügelte Tillet Charles, obwohl Clarissa Einspruch erhob. Tillets Worte waren ein Echo auf das, was die Dame auf der Hochzeit gesagt hatte:
»Er wird ein schlechtes Ende nehmen. Brauchst du noch mehr Beweise?«
Clarissa sah ihren Mann in stummer Bestürzung an.
Irgendwo im Herrenhaus in Resolute schlug eine Uhr zwei. Die Nacht war feucht und drückend, und Madeline LaMotte hatte mehr und mehr das Gefühl, hoffnungslos in der Falle zu sitzen. Ihr feines baumwollenes Nachthemd hatte sich um ihre Taille verwickelt, aber sie wagte nicht, sich zu rühren, aus Angst, ihr Gatte, der neben ihr schnarchte, könnte aufwachen.
Es war ein höchst anstrengender Tag gewesen, aber schlimmer noch, in den letzten paar Stunden hatte sie nichts als Schmerz, Schock und Enttäuschung erlebt. Sie hatte sich Justin als einen zärtlichen und rücksichtsvollen Mann vorgestellt, und zwar nicht nur, weil er älter war, sondern weil er sich in New Orleans so benommen hatte. Jetzt wußte sie, daß alles nur Schwindel gewesen war, nur darauf ausgerichtet, bei ihrem Vater und bei ihr einen falschen Eindruck zu erwecken.
Dreimal hatte sie sich heute nacht bitter belehren lassen müssen. Dreimal hatte Justin seine ehelichen Rechte wahrgenommen. Er war grob gewesen und hatte sich überhaupt nicht um ihre Gefühle gekümmert. Nur etwas verschaffte ihr eine kleine Erleichterung: Nachdem jetzt seine Unehrlichkeit klar zutage getreten war, empfand sie weniger Scham über ihr eigenes Täuschungsmanöver.
Diese Täuschung – das bißchen Blut beim erstenmal – war mit Hilfe von Maum Sally, die in solchen Dingen Bescheid wußte, in die Wege geleitet worden. Es war nötig gewesen, weil Madeline sich in jungen Jahren hatte verführen lassen. Dieser eine Fehltritt hatte ihrem Leben eine andere Wendung gegeben. Ohne diesen Fehler hätte sie ihre eigenen Vorstellungen über persönliche Ehre nicht ignorieren und in ihrer Hochzeitsnacht zu einer Täuschung Zuflucht nehmen müssen. Sie wäre überhaupt nie in diese fürchterliche Lage gekommen.
Madeline war in ihrem vierzehnten Lebensjahr verführt worden. Bis auf den heutigen Tag erinnerte sie sich glasklar an Gerard, den unbeschwerten, gutaussehenden Schiffsjungen von einem der Mississippi-Dampfer. Sie war Gerard zufällig eines Nachmittags am Hafen begegnet. Er war siebzehn und so lustig und aufmerksam, daß sie bald nicht mehr auf die Stimme ihres Gewissens hörte und sich jedesmal, wenn er in der Stadt war, davonschlich, um sich mit ihm zu treffen. Dies war in jenem Sommer etwa alle zehn Tage der Fall gewesen.
Später, im August, an einem dunklen, gewittrigen Nachmittag, gab sie seinem Drängen nach und ging mit ihm auf ein schmutziges Zimmer in einer Gasse des Vieux Carre. Sobald er sie in dieser kompromittierenden Situation hatte, vergaß er seine Höflichkeit und nahm sie, obwohl er darauf bedacht war, ihr nicht weh zu tun.
Er kam nicht zum nächsten vereinbarten Treffen. Sie nahm ein großes Risiko auf sich und begab sich zur Landungsbrücke des Dampfers, um sich nach ihm zu erkundigen. Der Schiffsjunge, mit dem sie redete, reagierte sehr ausweichend; er wisse nicht genau, wo sich Gerard im Augenblick aufhalte. Dann fiel Madelines Blick zufällig auf eines der oberen Decks. Hinter einem runden Kajütenfenster entdeckte sie die Umrisse eines Gesichts. Im Moment, da Gerard bemerkte, daß sie ihn gesehen hatte, verschwand er in der Dunkelheit. Sie sah ihn nie wieder.
Tagelang befürchtete sie, daß sie ein Kind bekommen würde. Als sie dieser quälenden Sorge enthoben war, kamen die Schuldgefühle. Sie hatte mit Gerard schlafen wollen, aber nun, da es geschehen und ihr klargeworden war, daß er nicht mehr als das gewollt hatte, verwandelte sich ihre Leidenschaft in Gewissensbisse und Angst vor allen jungen Männern und dem, was sie von ihr wollten.
In den nächstfolgenden Jahren entmutigte sie alle jungen Männer, die ihr den Hof machten, und ging Männern fast vollständig aus dem Weg, bis ihr Vater Justin LaMotte zum Abendessen einlud. Der Mann aus South Carolina hatte zwei Trümpfe in der Hand: seinen Charme und sein Alter. Sie war überzeugt, daß er nicht wie Gerard von Leidenschaft getrieben war. Deshalb hatte sie schließlich auf Justins wiederholte Anträge hin ihre Meinung geändert. Dies geschah wenige Tage, nachdem ihr Vater den Schlaganfall erlitten hatte. Eines Abends flehte er sie beim bleichen Licht der Kerze auf dem Nachttisch an:
»Ich weiß nicht, wie lange ich noch zu leben habe, Madeline. Tu mir den Gefallen und heirate LaMotte. Er ist ein anständiger und ehrenwerter Mann.«
»Ja«, sagte sie. Die Kerzen flackerten, Fabrays Atemzüge waren unregelmäßig. »Das glaube ich auch.«
Sie hatte ihre Angst vor der Ehe nur überwinden können, weil ihr Vater sie auf seinem Krankenlager so inständig darum gebeten hatte. Aber trotz der Achtung, die sie für ihren Vater empfand, war sie traurig, daß sie ihr Zuhause, ihren Freundeskreis und die Stadt, die sie kannte und liebte, aufgeben mußte. Sie unternahm die lange Reise nach South Carolina, weil sie ihrem Vater den Seelenfrieden schenken wollte und weil sie Justin LaMotte traute.
Doch wie fürchterlich hatte sie sich getäuscht! In bezug auf seine Bedürfnisse war Justin nicht anders als die jungen Männer, und in einer Hinsicht war er schlimmer: Gerard hatte sich wenigstens Mühe gegeben, ihr nicht weh zu tun.
Ihren Vater traf keine Schuld. Und doch glaubte sie, daß es nie so weit gekommen wäre, wenn sie noch eine Mutter gehabt hätte, die sie um Rat hätte fragen können. Madeline hatte ihre Mutter nie gekannt. Nicholas Fabray beschrieb sie als die feinste Frau der Welt. Allem Anschein nach war sie eine intelligente, kultivierte Kreolin von großer Schönheit gewesen. Fabray sagte, Madeline sehe ihr sehr ähnlich, aber es gab kein einziges Bild von ihrer Mutter, um dies zu bestätigen. Kurz bevor seine Frau so rasch und unerwartet gestorben war, hatte Fabray einem Miniaturporträtisten den Auftrag gegeben, seine Frau zu malen. Es sei der zweitgrößte Fehler in seinem Leben gewesen, meinte er später, daß er diese Idee nicht schon früher gehabt habe.
Mein Gott, dachte Madeline, alles war so schrecklich verworren. So voll bitterer Ironie. Wie hatte sie sich doch mit Maum Sally über die Hochzeitsnachttäuschung gestritten! Immer wieder hatte sie es abgelehnt, aber Maum Sally bestand darauf: Die Täuschung sei nicht nur notwendig, sondern in Anbetracht der Vorstellungen der Männer über Jungfräulichkeit auch ein Akt der Liebe Justin gegenüber. Mit der Täuschung würde ihre Ehe einen reibungslosen und problemfreien Anfang nehmen. Wie schrecklich schuldig hatte sie sich gefühlt, weil sie nachgegeben hatte – und wie lächerlich nahm sich dieses Schuldgefühl nun im Verhältnis zum Betrug ihres Gatten aus!
Und dann war da die Begegnung mit dem jungen Militärkadetten Orry Main. Seine liebenswürdige Art, seine guten Manieren und seine dunklen Augen hatten sie bezaubert. Sie hatte ihn berühren wollen und hatte dies getan, wobei sie nur für wenige Sekunden vergessen hatte, daß sie im Begriff stand zu heiraten, und daß er nicht das sein konnte, was er zu sein schien. Immerhin war er in ihrem Alter.
Unerwartet stieg jetzt, da sie neben ihrem Gatten lag, eine Erinnerung an Orry in ihr auf. Sogar beim Empfang hatte sie sich kurz aber heftig von dem jungen Mann angezogen gefühlt. Sie betrachtete sein Gesicht vor ihrem geistigen Auge. Plötzlich wurde sie wieder von Schuldgefühlen erfaßt. Was immer ihr Justin auch angetan hatte, er war ihr Ehemann. Allein der Gedanke an einen andern Mann war gemein.
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