»Natürlich! Du hast dich kaum verändert … Also schon, du bist älter geworden, aber du siehst dir immer noch verdammt ähnlich.« Taso grinste und fuhr sich durch die Haare. Bevor ihm ein weiterer doofer Spruch rausrutschen konnte, zog er den Vorhang am Ende des Flurs zur Seite und ließ sie in sein dunkles Zimmer treten. Er schaltete das Licht ein. Es roch muffig. Wie gern hätte er die Fenster aufgerissen.
Dalia sah sich um. Taso vermied es, ihrem Blick zu folgen, und ging zum Kleiderschrank. Den irritierten Gesichtsausdruck beim Anblick seiner schwarzen Fenster kannte er schon von den wenigen früheren Besuchern. Er entledigte sich seiner Sandalen, streifte den Mantel ab und zog sich eine ausgewaschene Kapuzenjacke über das T-Shirt. Die gelbe Cordhose würde Dalia verkraften müssen, im Vergleich zur Namischen-Kleidung war sie sogar beinahe modisch.
»Sieht ein bisschen wild aus hier, ich weiß«, entschuldigte er sich mit Blick auf das ungemachte Bett. »Ich habe selten Gäste.«
»Nicht schlimm. Ich habe mich ja auch nicht angemeldet.« Dalia lächelte. Taso war dankbar, dass sie ihr Befremden so gut versteckte. Sie zeigte auf den Stapel Pakete vor dem Vorhang. »Warum sind die alle noch zu?«
Jedem anderen hätte Taso vermutlich geradeheraus gesagt, dass er mit der Münze entschied, welche Pakete er öffnete, welche er ungeöffnet stehen ließ und welche er zurückschickte. »Ach, da ist nichts Wichtiges drin, ich bin einfach noch nicht dazu gekommen, sie zu öffnen … Tee?« Dalia nickte. Er ging in die angrenzende Küche, setzte Wasser auf und lehnte sich an den Türrahmen zum Wohnbereich. Eine Zeit lang sah er Dalia an, ohne etwas zu sagen. Sie hatte sich an den Esstisch gesetzt und erwiderte stumm seinen Blick. Dann verschränkte sie die Arme auf der Tischplatte und legte den Kopf darauf. »Nein, sie wissen nicht, dass ich hier bin«, murmelte sie. Langsam hob sie den Kopf wieder.
Taso nickte, ging zurück in die Küche und holte zwei Tassen aus dem Schrank. Als er den Tee abmaß, hörte er plötzlich Dalia an einem Fenstergriff herumhantieren. »Halt!«, schrie er und hechtete zurück ins Zimmer. Der Messlöffel fiel mit einem schrillen Klirren auf die Küchenfliesen.
Dalia zuckte erschrocken zurück und sah ihn verwirrt an. »Sind die Fenster kaputt?«
»Nicht direkt.« Er spürte, wie er rot wurde. »Ich mag offene Fenster nicht so gern. Jedenfalls nicht tagsüber.«
Er wusste, dass er ihr früher oder später die Wahrheit sagen musste. Sonst würde sie ihn für einen Wahnsinnigen halten. Nervös schob er die Hände in die Hosentaschen. Wahrscheinlich würde sie ihn so oder so für wahnsinnig halten. »Mir gehts um die Drohnen«, sagte er leise und begann seufzend zu erklären. »… und wenn dann jemand bei mir ist, den der Würfel nicht kennt, wollen sie erst recht herein«, schloss er.
»Deshalb auch die schwarzen Fenster.«
Taso nickte.
»Das meinten deine Eltern also damit, dass du den Würfel ablehnst … Aber was wäre denn so schlimm daran, wenn er deine Wohnung sieht?«
Taso sah sie traurig an. In ihrer Frage schwang solch ein Unverständnis mit, dass sein Herz ganz schwer wurde. Vielleicht war jetzt doch noch nicht der richtige Zeitpunkt für die ganze Wahrheit. »Ich will einfach nicht, dass er mir beim Leben zusieht«, sagte er knapp.
Dalia nickte nachdenklich. Dann fragte sie mit einem Lächeln: »Können wir das Fenster wenigstens einen Spaltbreit öffnen? Wenn die Fremde in deiner Wohnung erstickt und nicht mehr rauskommt, hättest du bald mehr als Drohnen in der Wohnung …«
Taso lächelte beklommen zurück. Er wollte etwas kontern, ihm fiel aber nichts Sinnvolles ein. Er hatte die Fenster schon seit Monaten nicht geöffnet – für die Luftzirkulation sorgten nur die Lüftungen in Bad und Küche – und wollte heute keine Ausnahme machen. Zu seiner eigenen Überraschung sagte er allerdings: »Vielleicht das Küchenfenster? Ich öffne es ein bisschen und stelle was Schweres davor, damit keine Drohnen reinkönnen.«
Dalia nickte eifrig.
Das Küchenfenster öffnete sich in Richtung Wandschrank, weg von der Tür zum Zimmer. Viel zu sehen bekämen die Drohnen durch den kleinen Spalt also nicht. Taso drehte den Griff des Fensters und löste es mit einem Ruck vom Rahmen, was an das Geräusch beim Abziehen eines Klebestreifens erinnerte. Nur Augenblicke später belüfteten die Rotoren eines Datenschürfers seine Küche. Mit dem Rücken zu Dalia zeigte Taso ihm den Mittelfinger.
Als sie am Tisch saßen, verrührte Taso langsam den Zucker in seiner Tasse, ohne mit dem Löffel den Rand zu berühren. Er suchte nach einem einfühlsamen Gesprächseinstieg. Im Grunde wusste er nichts über Dalias Leben in Humaning. Er konnte nur vermuten, dass sie mit so überzeugten Namischen als Eltern ihr Leben lang kontrolliert und indoktriniert worden war. Ihre Flucht musste sie viel Überwindung gekostet haben. Kein Wunder, dass sie nicht von allein erzählte.
»Warum bist du hier?«, fragte er möglichst sanft.
Dalia umfasste ihre Tasse und pustete konzentriert hinein. »Ich wusste nicht, wo ich sonst hinsollte … Meine ganze Familie sind Namische. Nur meine Tante nicht, aber die hätte mich trotzdem sofort zurückgebracht.« Ihr Blick haftete fest an ihrer Tasse. »Ich kenne sonst niemanden hier draußen – ich war ja erst vierzehn, als wir umgezogen sind. Und die meisten meiner damaligen Freundinnen sind mit ihren Familien auch nach Humaning oder in andere WfZs gezogen.«
»Wo habt ihr denn früher gewohnt?«
Dalias Blick huschte kurz zu Taso. »In einem kleinen Dorf im Harz.« Sie biss auf ihrer Unterlippe herum. »Du warst der Einzige, der mir in den Sinn kam … Gestern hab ich mich endlich getraut, deine Mutter nach deiner Adresse zu fragen, unter dem Vorwand, dass ich dir schreiben will. Dann habe ich schnell ein paar Sachen gepackt, hab den anderen gesagt, dass es mir nicht gut geht, und bin während des Mittagsgebets abgehauen. Nicht weit vor der Stadtgrenze ist eine Bushaltestelle, von dort war es eigentlich ganz einfach. Zwar ein bisschen unheimlich, diese Geisterbusse, aber ich habs überlebt.«
Taso nickte. »Ist … ist irgendwas passiert, weshalb du abgehauen bist?«
Dalias Gesicht verhärtete sich, jetzt sah sie Taso direkt an. »Nein, nichts ist ›passiert‹! Reicht es nicht, dass ich es nicht mehr ausgehalten habe? Ich hab zweiundzwanzig Jahre so gelebt, wie andere es für richtig hielten. ›Gottesfürchtig‹ nannten sie das, dabei hatte es mit Gott nicht das Geringste zu tun!«
Taso wusste nicht, was er sagen sollte.
Dalia wandte den Blick wieder ab und sprach nun leiser. »Entschuldige. Aber es muss nicht immer erst was ›passieren‹, damit man sich ein anderes Leben wünschen darf. Ich habe viel zu lange gebraucht, um das zu verstehen.«
Tasos Mund fühlte sich plötzlich trocken an. Er schämte sich, obwohl er nichts falsch gemacht hatte. »Vielleicht ist es das Letzte, worüber du jetzt reden willst …«, sagte er nach einer Weile, »aber ich hab keinen Schimmer, wie dein Leben in Humaning war.«
Dalia sah ihn verbittert an. »Leben? Das war kein Leben, es war die Hölle.« Sie trank einen Schluck und starrte in Richtung Küche, aus der die Rotorengeräusche einer neuen Drohne zu hören waren. »Die Namischen behaupten zwar, sie seien keine Sekte, aber genau das sind sie, und zwar von der schlimmsten Sorte. Wusstest du, dass ich Humaning nie allein verlassen durfte? Wenn wir doch mal draußen waren, durfte ich mit niemandem reden, und meine Eltern verteufelten alles und jeden, dem wir begegneten. Einmal habe ich mich mit einer Freundin rausgeschlichen. Wir haben im Nachbarort ein Bier getrunken. Mein erstes Bier überhaupt! Das war so ein genialer Nachmittag … Natürlich hat uns jemand gesehen und verpfiffen. Mein Vater ist völlig ausgerastet. Als ich nach Hause kam, hat er mich in den Keller gesperrt. Einen Monat musste ich dort bleiben, durfte nur raus, wenn ich aufs Klo musste. Da war ich achtzehn!« Dalia schüttelte den Kopf. »Natürlich hab ich damals kaum protestiert, sondern einfach meine Zeit abgesessen … und mich sogar schuldig gefühlt.«
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