Und so geschah es denn auch, und der Klassenlehrer tat alles, um Jan aus seiner vorsichtigen Zurückhaltung herauszuhelfen.
„Enrico“, eröffnete er die Erdkundestunde, „du warst doch schon selber in den Küstenstädten und in den Seebädern und auch auf den Inseln, nicht wahr? Damit fangen wir heute an, die Küstenregion Nordsee. Du kannst derweil mal durch das ganze Haus marschieren und die Zeitschriften für die Sammlung der Kriegsgräberfürsorge auf die Klassen verteilen, pro Schüler ein Exemplar, und nur während der Stunde, nicht in den Pausen, sonst gibt’s da womöglich noch eine Balgerei um die Hefte. Am besten nimmst du dir deinen Nachbarn mit, den Jan Fellgiebel, zu zweit könnt ihr das besser tragen.“
Enrico war die Küstenregion tatsächlich schon ein wenig vertraut, weil er schon mehrmals während der Ferien seine Eltern auf wochenlangen Tourneen an die Nordsee hatte begleiten dürfen. Jan dagegen wäre während der Erdkundestunde viel lieber in der Klasse geblieben, weil er noch überhaupt nichts vom Norden Deutschlands wusste, und vor allem nicht vom Meer, das ihn schon als Kind, jedes Mal wenn davon gesprochen worden war, hatte aufhorchen lassen. –
„Bei den nächsten gehst du voran“, drängte Enrico, „du hast ja jetzt gesehen, wie’s geht!“
Die nächste Klasse, das waren ausgerechnet Große, eine Obersekunda, ‚O II.a‘ stand an der Tür. Jan klopfte vorsichtig an, mehrmals. Im Klassenzimmer schien es lebhaft zuzugehen. Dann war etwas zu hören, was man als ‚Herein‘ deuten konnte, sie traten zögernd ein und nahmen nebeneinander Aufstellung in der Nähe der Tür. Der Lehrer, der nicht unbeliebte, aber auch gefürchtete Dr. Fürst, las gerade seiner Klasse aus Don Karlos jenen berühmten Auftritt des dritten Aktes vor, in dem der Malteserritter Marquis von Posa von Philipp II., den Fürst natürlich gleich mitlas, Gedankenfreiheit forderte. Man muss dazu wissen, dass Fürst schon als Schüler zum Verdruss seiner Eltern hatte Schauspieler werden wollen und während seines Germanistikstudiums nicht nur Theaterwissenschaft belegt, sondern heimlich jahrelang Schauspielunterricht genommen hatte, intensiv, nicht nur so nebenher, wie er betonte. Im Gymnasium betreute er dann die Theatergruppe, die bald alle anderen Schülertheatergruppen im Lande übertraf, und leitete sämtliche Schulfeiern, in denen gesungen, musiziert oder vorgetragen wurde, vom Direktor deshalb bei entsprechenden Anlässen in freundlichem Spott mit ‚Herr Intendant‘ angeredet.
Daraus erklärt sich, dass er die berühmte Szenenfolge nicht einfach flüchtig herunterlas , sie auch nicht seiner Klasse mit einiger Sorgfalt vorlas , sondern er trug sie vor , nein, er spielte sie, mit Donner und Getöse und zog dabei, wie er das in solchen Fällen immer tat, auch die letzten Register. Eine solche Darbietung kann freilich nicht an beliebiger Stelle unterbrochen werden, und so dauerte es eine Weile, bis er innehalten konnte, um endlich zu den beiden kleinen Quintanern hinüberzublicken.
„Was wollt ihr?“, herrschte er die beiden an, noch immer in gehobenem Tone und mit gestützter Stimme, die er auch an sich selbst so liebte. Jan und Enrico machten scheu einen hastigen Hitlergruß, und Jan sagte, dass sie in allen Klassen die Zeitschriften für die Sammlung der Kriegsgräberfürsorge verteilen sollten, wobei Jan spürte, dass sein Stimmchen, das ja noch ungebrochen war, in so unmittelbarem Anschluss an Dr. Fürsts mächtigen Auftritt noch dünner klang als im Zwiegespräch mit seinem Stiefvater.
„Hinaus mit euch!“, donnerte Fürst im gleichen Ton weiter, „und noch einmal von vorn! Deutliches Anklopfen – warten, bis man euch hereinruft – dann die Tür hinter euch schließen – drei Schritte in den Raum treten – nebeneinander aufstellen – und dann, beide gleichzeitig, grüßen! Aber nicht wie der Tünnes in der Kneipe oder die Tante Thusnelda beim Friseur mit ‚Heidla‘, so wie ihr beide eben“, wobei er darauf achtete, dass bei ‚Heidla‘ ein ganz kurzes ‚a‘ am Ende stand. „Also den Gruß deutlich sprechen, ohne Hast, ganz vorn im Mund geformt und genügend kraftvoll: Heil Hitler!“
Und als ob das immer noch nicht genügend klar geworden sei, wiederholte er noch einmal mit großer Geste und in höchster Betonung: „H e i l“, und da machte er eine winzige Pause und fuhr fort, „H i t t - l e r r ! – Und nicht Heidla“, wobei er erst die drei letzten Worte nicht mehr mit gestützter Stimme sprach, sodass sie wieder ganz zum Alltag gehörten.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.