Doch der Taxifahrer schien es nicht sonderlich eilig zu haben. Umso besser, dann konnte er sich eine Weile ausruhen. Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
»Heute schon Feierabend, Patrón?«
»Mhm«, antwortete er lustlos.
Früher hatte sich Tomás gerne mit Taxifahrern unterhalten. Ihnen eilte der Ruf voraus, den Puls einer Stadt am besten zu kennen, aber nach vielen Jahren bedeutungsloser Konversation war Tomás zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen urbanen Mythos handeln musste, genährt von ausländischen Berichterstattern, die zu faul waren, ihre Arbeit gründlich zu machen – drei Fahrten mit dem Taxi, und sie glaubten zu wissen, wie das Herz der Metropole schlug. Gleichwohl fühlte er sich in seinem neuerlichen Bestreben, ein einflussreicher Journalist zu werden, zur Unterhaltung verpflichtet.
»Wie läuft das Geschäft? Immer gut zu tun?«
»Immer weniger. Der Verdienst reicht kaum noch, um die Kosten für das Auto zu decken. Diese verdammten Fahrräder nehmen uns massenhaft Kunden weg.«
Für Tomás klang das nach einer ziemlichen Übertreibung, aber der junge Mann kannte sein Geschäft sicher am besten. Er betrachtete ihn mitfühlend und sah sich dann im Taxi um. Ein Coffee-to-go-Becher von Starbucks in der Konsole zwischen den Vordersitzen erregte seine Aufmerksamkeit: ein kaum bezahlbarer Luxus für einen Taxifahrer in einer finanziell schwierigen Situation. Die Widersprüche des modernen Lebens , sagte er sich. Ein farbenfrohes Detail für einen zukünftigen Artikel über das Phänomen, wie Modeerscheinungen der westlichen Welt den verarmten Sektoren unserer Länder einfach aufgezwungen werden .
»Und wie steht es mit der Sicherheit? Ist die Arbeit als Fahrer nicht ziemlich gefährlich?«
»Ich nehme hier eine Abkürzung, die Insurgentes ist völlig überlastet«, sagte der Fahrer und bog noch im selben Moment in eine kleine Nebenstraße ab. »Man ist wachsam. Aber wie man sieht, trifft es sogar die Künstler.«
»Allerdings«, erwiderte Tomás und verfluchte sich für den idiotischen Einfall, das Thema Sicherheit anzuschneiden.
»Wie sehen Sie die Sache, Patrón? Wer hat die Frau auf dem Gewissen?«
Das Klingeln des Handys bewahrte ihn gerade rechtzeitig davor, antworten zu müssen. Er kramte in seinen Taschen, bis ihm einfiel, dass sein Handy ausgeschaltet war. Es musste das Telefon des Taxifahrers sein, der in diesem Moment in seine Jackentasche griff und den Anruf wegdrückte. Ein BlackBerry der neuesten Generation , dachte Tomás, zumindest sah es genauso aus wie das von Jaime an diesem Morgen.
Er musterte den jungen Fahrer noch einmal genauer und glaubte zu erkennen, dass dieser Markenkleidung trug – obwohl er sich in der Hinsicht nicht als Experte verstand. Er dachte noch einmal an den Moment zurück, als er in das Taxi gestiegen war, und eine Ader auf seiner Stirn begann zu pochen, da ihm klar wurde, dass der Wagen draußen vor dem Le Pain Quotidien gestanden und womöglich dort auf ihn gewartet hatte.
Jeder Hauptstädter kannte den Modus Operandi von Überfällen in Taxis. Inzwischen waren sie zwar sehr viel seltener als in den Neunzigern, aber die Berichte über den Ablauf hatten sich kaum geändert. Der Wagen bog in der Regel bald auf weniger befahrene Nebenstraßen ab, bis schließlich ein zweiter Wagen auftauchte, aus dem ein Komplize ausstieg. Der setzte sich auf den Beifahrersitz und bedrohte das Opfer mit einer Waffe. Darauf folgte eine lange Prozedur, bei der mit sämtlichen Bank- und Kreditkarten die Konten des Opfers an verschiedenen Geldautomaten der Stadt leer geräumt wurden. Allerdings ließen ihn das gepflegte Äußere und die athletische Körpersprache des jungen Fahrers vermuten, dass hier niemand hinter seinem Geld her war.
Tomás rutschte auf den Platz hinter dem Beifahrersitz, damit ihn der Fahrer nicht mehr über den Rückspiegel im Blick hatte, und drehte langsam den Kopf, um zu überprüfen, ob ihnen jemand folgte. Etwa einen halben Block entfernt bemerkte er einen weißen Lieferwagen mit mehreren Insassen; damit war die Sache für ihn klar.
Vorsichtig versuchte er, die Tür zu öffnen, um aussteigen zu können, sobald der Fahrer die Geschwindigkeit drosselte, aber es ging nicht. Er nahm an, dass es die Kindersicherung war, durch die sich die Tür nur von außen öffnen ließ; mit der linken Tür verhielt es sich bestimmt nicht anders.
Zwei Häuserblocks weiter bog das Taxi nach links in eine kleine Straße ein. Noch während der Wagen um die Kurve fuhr, schlug Tomás dem Fahrer mit den Knöcheln der rechten Hand hart gegen das Kinn. Der Kopf des Mannes schlug gegen das Fenster, dennoch hielt er das Lenkrad – womöglich durch ein Art Reflex – weiterhin fest umklammert, sodass das Auto seinen Kurs fortsetzte. Das Taxi prallte gegen den Vorderreifen eines alten Kombis, der am linken Straßenrand geparkt war, und kam zum Stehen. Der Fahrer schien das Bewusstsein verloren zu haben, aber Tomás nahm sich nicht die Zeit, das zu überprüfen. Er wusste, dass ihm nur wenige Sekunden blieben, bevor der Lieferwagen um die Ecke biegen würde. So schnell er konnte, kletterte er nach vorne auf den Beifahrersitz, öffnete die Tür und sprang aus dem Wagen.
Instinktiv rannte er hinter den Kombi, weil es das einzige Versteck in der langen Reihe parkender Kleinwagen war, das ihn vollständig verdecken würde. Es handelte sich um einen Transporter ohne Fenster, hinter dem Tomás in die Hocke ging. Wenige Augenblicke später hörte er, wie der Lieferwagen um die Ecke bog und gleich darauf am rechten Straßenrand zum Stehen kam. Geduckt lief Tomás in Richtung der Straße zurück, über die sie gekommen waren, erreichte die Straßenecke und rannte dann los in Richtung Insurgentes. Der weiße Lieferwagen war nicht zu sehen, aber er schätzte, dass es nur eine Frage von Sekunden war, bis einer der Insassen zurücklaufen und die Straße nach ihm absuchen würde. Er musste es bis zur nächsten Seitenstraße schaffen, um aus dem Sichtfeld zu verschwinden. Er konnte nur hoffen, sie würden annehmen, dass er in Fahrtrichtung des Taxis weitergelaufen war.
Tomás’ Lungen brannten, als wollten sie in Flammen aufgehen. Die nächste Straßenecke schien unerreichbar, und jeden Augenblick konnte sich der Blick eines der Männer in seinen Rücken bohren. Ich werde es nicht bis zur nächsten Ecke schaffen , sagte er sich. Fünf Meter weiter, mehr aus Atemnot denn aus strategischen Gründen, schlüpfte er in eine Filiale der Apothekenkette Similares. Zwei Verkäufer und ein Kunde blickten ihn alarmiert an.
»Ich werde verfolgt«, sagte Tomás. »Verstecken Sie mich, bitte!«
Keiner der Anwesenden rührte sich.
»Ich flehe Sie an, jedem von Ihnen könnte das Gleiche passieren.«
Der jüngere der beiden Angestellten blickte nach hinten in den Laden und wirkte nicht sehr überzeugt. Es war eine kleine Filiale ohne richtiges Lager. Aber dann schien ihm etwas einzufallen, und er deutete auf ein Doktor-Simi-Kostüm in einer Ecke des Raumes.
»Der Typ, der das anzieht, kommt erst morgen«, erklärte er ihm. »Ihre Entscheidung.«
Tomás hielt es zuerst für einen Scherz, aber niemand lachte. Er kam zu dem Schluss, dass ihm alles lieber war, als wieder hinaus auf die Straße zu gehen. Die beiden Verkäufer halfen ihm in das Kostüm, während der Kunde hastig seine Einkaufstüte nahm und den Laden verließ. Bevor er verschwand, sagte er noch: »Da kommt jemand angerannt, beeilen Sie sich.«
Die Angestellten hatten sich kaum von dem Maskottchen entfernt, als sie draußen einen korpulenten, schwitzenden Typen vorbeirennen sahen. Tomás versuchte, sich zu erinnern, was genau Doktor Simi immer machte, und plötzlich hatte er wieder vor Augen, wie die Puppe zu Música Tropical tanzend die Kunden einlud, in die Apotheke zu kommen. Zum Glück gibt es keine Musik , sagte er sich, während er damit kämpfte, seine vom schieren Gewicht der Verkleidung gehemmten Bewegungen zu kontrollieren. Er begann, ungeschickt mit den riesigen Händen zu klatschen, und ging zur Ladentür. Der Mann war bereits an der nächsten Häuserecke angelangt und überprüfte jetzt den zurückgelegten Weg, um sich das plötzliche Verschwinden seines Opfers zu erklären. Der weiße Lieferwagen hielt auf Höhe seines Mitstreiters an, nachdem er offensichtlich einmal um den ganzen Block gefahren war. Anscheinend waren seine Verfolger inzwischen – zu Recht – überzeugt, dass Tomás in die Straße zurückgelaufen war, die sie entlanggekommen waren. Die Männer standen keine zehn Meter von ihm entfernt, als sie laut fluchend beratschlagten, was als Nächstes zu tun sei.
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