Tomás stieß einen Seufzer aus und erzählte beinahe im gleichen Wortlaut, was er zuvor schon Jaime über sein Mittagessen mit dem Rechtsanwalt Raúl Coronel berichtet hatte. Nur dass ihm diesmal, während er sich selbst zuhörte, die Art und Weise, wie er sich hatte bezirzen lassen, noch unverantwortlicher und törichter vorkam. Amelias forschender Blick bestätigte sein Gefühl: Er war ein Dummkopf gewesen.
»Er sagte, das Detail sei zu gut, um es zu ignorieren«, fügte Tomás erklärend hinzu.
»Ich werde versuchen, mehr über Coronel herauszufinden. Er könnte uns zum Kern der Sache führen«, schlug sie vor.
Tomás hörte sie gar nicht mehr, so laut hallte der letzte Satz seiner Verteidigungsrede in ihm nach. Etwas ließ ihn nicht in Ruhe, aber er konnte es nicht greifen, wie ein Alarm, der nur ganz leise aus unbestimmter Ferne zu hören war.
Als er sich wieder gesammelt hatte, erzählte er Amelia von seinem Gespräch mit Jaime.
»Er hat natürlich nicht ganz unrecht, aber nimm nicht alles wörtlich, was er sagt. Ganz sicher hat er selber was davon, wenn du über seine Themen schreibst. Schau dir das Material, das er dir für die Kolumne gibt, auf jeden Fall genau an. Ich kann dir sonst auch noch was geben, das für einen hübschen Artikel reichen dürfte. Hinter den illegalen Anzapfungen der Pipeline von PEMEX steckt ein Gouverneur – dabei geht es um einen Jahresumsatz von mehreren Hundert Millionen.«
»Das interessiert mich. Gib mir einfach die Daten. Anhand der Informationen werde ich ein paar Telefonate führen, um die Sache zu untermauern. Ein Mitglied der Industriegewerkschaft Bergbau schuldet mir noch einen Gefallen«, erwiderte Tomás munter.
Amelia lächelte. Sie wusste, dass ihr Freund eine Vorliebe für Benzin-Skandale hatte.
Tomás war damals, als er noch als Reporter gearbeitet hatte, plötzlich berühmt geworden, als er die wahre Ursache für die Explosionen im Kanalnetz von Guadalajara im Jahr 1992 öffentlich gemacht hatte. Nach der offiziellen Version handelte es sich um einen Unfall, der angeblich der Nachlässigkeit der Industrie in Guadalajara geschuldet war, die ihre Abwässer über die Kanalisation entsorgt hatte, aber Tomás zeigte anhand einer Reihe von Reportagen auf, dass sich hinter der Tragödie ein Verbrechen von gigantischem Ausmaß verbarg. Die Verantwortlichen eines Erdölspeichers erhielten über die Pipeline aus Salamanca viel mehr Benzin, als sie inventarisierten, was es ihnen ermöglichte, riesige Mengen von Treibstoff und Lösungsmitteln auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Am einundzwanzigsten April desselben Jahres wurden sie vor der Gefahr einer Wirtschaftsprüfung gewarnt, weshalb man sich entschloss, den illegalen Treibstoff kurzerhand über die Kanalisation zu entsorgen. Es handelte sich um mehrere Tonnen. Um zehn Uhr morgens des darauffolgenden Tages kam es, wahrscheinlich ausgelöst durch einen Funken, zu zahlreichen Gasexplosionen im Kanalnetz der Stadt, wobei Straßen von insgesamt acht Kilometern Länge in die Luft flogen, Hunderte von Menschen starben und Zigtausende ihre Häuser und Wohnungen verloren. Die Ergebnisse von Tomás’ Nachforschungen gingen durch die internationale Presse, er wurde mit zwei Journalistenpreisen ausgezeichnet und bekam schließlich den Job als Kolumnist bei El Mundo . Aus eigenem Verdienst auf diese Bühne zurückzukehren, und wieder durch einen Benzin-Skandal, würde die letzten faden Jahre der beruflichen Mittelmäßigkeit wieder wettmachen.
Die bloße Vorstellung brachte Tomas’ Augen zum Leuchten, er sah sich selbst wieder als den umjubelten Journalisten im Zentrum des politischen Geschehens.
Unwillkürlich stellte er sich die Frage, ob ihm das auch eine zweite Chance bei Amelia einräumen würde. Knapp zwanzig Jahre zuvor hatten ihn beim Umwerben der Freundin, die fünf Jahre vor ihm erwachsen geworden war, alle erdenklichen Unsicherheiten geplagt. Mit einer gewissen Genugtuung überlegte er, dass sich die Alterskurven schon in ein paar Jahren umkehren würden. Mit vierundzwanzig hatte ihre Schönheit Männer aller Altersklassen angezogen, während er gerade erst seine verspätete Pubertät hinter sich gehabt hatte. Es war ein ungleiches Spiel gewesen. Doch nun, da sie in ihren Vierzigern waren, würde er noch eine Weile für Frauen attraktiv bleiben, die zwanzig Jahre jünger waren als er, während Amelias Auswahl bald auf Männer an der Schwelle zum Greisenalter beschränkt sein würde. Tomás beschloss, ihr irgendwann noch einmal den Hof zu machen und in aller Großzügigkeit zu demonstrieren, dass er sie den jüngeren Frauen vorzog.
Diese Überlegungen und zwei weitere Martinis erfüllten ihn mit neuem Optimismus. Das einzige Problem an der Sache war, dass sich Amelia um all das gar nicht zu kümmern schien. Ihre festen, sonnengebräunten Schenkel, die sie soeben anmutig übereinandergeschlagen hatte, sprachen obendrein gegen Tomás’ Gedankenspiele.
»Ich will ganz offen mit dir sprechen«, kündigte Amelia an. »Die Dosantos-Geschichte ist ein Kratzer im Ansehen der neuen Regierung, und den müssen wir ausnutzen. Wir müssen dafür sorgen, dass aus dem Kratzer ein ausgewachsener Riss wird. Wir müssen die Wunde öffnen und vor aller Augen untersuchen, bevor das System sie unbemerkt wieder verschließt.«
Offensichtlich machte sich Amelia mehr Gedanken über ihre politische Agenda als über den hormonellen Alterungsprozess, dem sie biologisch unterworfen war.
»In Ordnung«, willigte Tomás ein, nachdem er sich wieder gesammelt hatte. »Ich würde gerne mehr über den Mord an Pamela Dosantos herausfinden, nicht in erster Linie, um darüber zu schreiben, sondern weil wir den Stand der polizeilichen Ermittlungen kennen müssen, wenn wir die Sache ausschlachten wollen. Immerhin wissen wir noch gar nichts über ihre mögliche Verbindung zu Salazar oder die Motive, die jemand gehabt haben könnte, sie aus dem Weg zu räumen.«
»Du hast recht, das wäre sonst selbstmörderisch«, gab Amelia zu und betrachtete ihren Freund zum ersten Mal an diesem Abend mit Respekt. »Das Schlimmste, was passieren könnte, ist, dass sich alles als großer Bluff entpuppt. Wir sollten das Terrain kennen, das wir betreten.«
»Ich habe ein paar Kontakte zur Polizei der Stadt, das könnte ein guter Ausgangspunkt sein. Jaime wird sich auch mit dem Thema auseinandersetzen, aber ich möchte nicht völlig auf ihn angewiesen sein.«
Amelia nickte nachdenklich. Die Furche, die sich zwischen ihren Augenbrauen bildete, kannte Tomás nur allzu gut. Sie tauchte immer dann auf, wenn sie eine teuflische Idee ausbrütete, kurz bevor sie einen provokanten Satz sagte oder – in ihrer Kindheit – ein Spiel vorschlug, das sie alle letztlich in Schwierigkeiten bringen würde.
»Wir täuschen uns doch nicht in Lemus, oder?«, fragte sie schließlich mit einem schelmenhaften Grinsen.
»Du meinst, wir sollten uns an Don Carlos wenden?«
»Warum nicht? Jaime und er reden schon lange nicht mehr miteinander«, sagte Amelia, ohne auch nur mit einem Wort zu erwähnen, dass sie selbst der Grund für den Bruch zwischen Vater und Sohn gewesen war. »Carlos hat einen guten Draht zu den älteren Polizisten, den gerade pensionierten oder denen, die demnächst in den Ruhestand gehen. Für die gibt es im Sumpf der Stadt keine Geheimnisse.«
Tomás spürte, wie ihm der Martini auf den Magen schlug. Er wusste, was zwischen Jaimes Vater und Amelia gewesen war, und seinerzeit hatte er die Zurückweisung seiner Freundin auf die Tatsache geschoben, dass sie sich von reiferen Männern angezogen fühlte. Er vermutete, dass der Korb, den sie ihm vor achtzehn Jahren gegeben hatte, mit dem Beginn ihrer Affäre mit Carlos Lemus zusammengehangen hatte. Doch Amelia war nicht in der Stimmung für Andeutungen dieser Art. Das ist sie nie , dachte er.
»Möchtest du, dass ich ihn anrufe, damit du mit ihm sprechen kannst?«
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