Vidal aktivierte den Bildschirm, um zu sehen, ob es etwas Neues von seinem Freund gab. Der Download über Torrent dauerte ein paar Minuten, aber Sicherheit ging vor. Enttäuscht stellte er fest, dass der Ordner noch immer leer war, und beschloss, dass jetzt ein guter Zeitpunkt für einen Ausflug auf die Dachterrasse war.
Der Joint fühlte sich gut an. Vidal spürte, dass es genau das Richtige gewesen war, die Schule zu verlassen und seine ganze Zeit darin zu investieren, sich unter den Profis im Cyberspace einen Namen zu machen. Luis hatte ihm achttausend Dollar für den ersten Job und zehntausend für den zweiten bezahlt. Er wollte noch einen dritten an Land ziehen, bevor er seinen Eltern schließlich zeigte, was er verdient hatte. Auf diese Weise wollte er sie davon überzeugen, dass seine Arbeit so ehrenwert war wie jede andere auch, nur vermutlich um einiges lukrativer.
Er träumte von der Möglichkeit, Luis’ Fähigkeiten mit Tomás’ beruflichen Beziehungen zu verknüpfen und etwas zu erschaffen, das ihnen zu Ruhm und Reichtum verhelfen könnte. Vielleicht ein Online-Magazin auf der Basis solider journalistischer Arbeit mit explosivem Material oder eine Fernsehsendung mit investigativem Journalismus, deren Enthüllungen die Zuschauer in Erstaunen versetzten. Dabei müssten es nicht einmal politische Skandale sein – jede unerwartete Information über das Leben eines x-beliebigen Städters wäre gut genug. Es wäre in etwa so, wie wenn ein Mentalmagier seinem verblüfften Publikum den Inhalt einer fremden Brieftasche verriet.
Als Vidal spürte, dass die Wirkung des Marihuanas nachließ, kehrte er an seinen Schreibtisch zurück. Er führte abermals den entsprechenden Download durch und musste einige Minuten warten, da er diesmal tatsächlich mehrere große Dateien enthielt. Er speicherte sie auf einem USB-Stick, kopierte sie auf seinen Laptop, der nicht mit dem Internet verbunden war, löschte den Download auf dem Desktop-Computer und begann zu lesen. Nun, da die Dateien heruntergeladen waren, würden sie automatisch von Torrent gelöscht werden.
Der Download umfasste mehrere Ordner. Im ersten befanden sich verschiedene Dokumente mit Bezug zu dem Gebäude, in dem Salazar sein Büro hatte und in dem die Schauspielerin allem Anschein nach ermordet worden war: das Grundbuch, ein Grundriss des Hauses, die aktuellen und die vorherigen Besitzer. Der zweite Ordner enthielt einen eindrucksvollen Stammbaum von Patricia Serrano.
Die Ahnenforschung war ein weiteres Hobby von Luis: Während die Daten der Einwohnermeldeämter des Landes immer weiter digitalisiert wurden, hatte sich Luis einen Spaß daraus gemacht, ein Programm zu entwickeln, das die Datenbanken scannte und anschließend miteinander verglich, indem es die Daten in Form einer Grafik, die einem Wald aus Baumdiagrammen ähnelte, übereinanderlegte, Dopplungen eliminierte und Unpassendes verwarf. Dabei verflochten sich die Äste der Bäume mit denen anderer und offenbarten eine weit verzweigte Landkarte des jeweiligen Familienclans. Luis hatte einmal überlegt, die Ergebnisse den Zeugen Jehovas zu zeigen, die es aus irgendeinem religiösen Grund für nötig befanden, die Ahnen ihrer Mitglieder zu kennen. Vidal hatte nie nachgefragt, was aus dem Projekt geworden war.
Im Stammbaum der Serranos und der Plascencias – die ursprünglichen Nachnamen von Dosantos – entdeckte Vidal zahlreiche Namen, die mit dem Drogenhandel in Verbindung gebracht wurden, obwohl das in Sinaloa nicht sonderlich überraschte, wo Fonseca, Beltrán und Félix geläufige Namen waren, die sich mit verschiedenen Plascencias mischten, unter anderem mit der Mutter der Schauspielerin. Er würde den Stammbaum mit mehr Ruhe durchgehen und mit den Polizeiakten vergleichen müssen, um zu sehen, ob es da etwas Aufschlussreiches gab. Wahrscheinlich war sein Freund genau damit gerade beschäftigt.
Der dritte Ordner war der aufregendste. Es handelte sich um drei Aufnahmen von einem Auto, die anscheinend von Kameras gemacht worden waren, die den Verkehr in der Hauptstadt überwachten. Auf einer war das Auto von hinten zu sehen, sodass das Nummernschild zu erkennen war. Eine andere zeigte dasselbe oder ein sehr ähnliches Fahrzeug, wie es um eine Straßenecke bog, die Vidal nicht identifizieren konnte, doch auf dem Videomitschnitt waren Orts- und Zeitangaben vermerkt: »19. November 2013, 14.46 Uhr, Calle Nueva York / Insurgentes, Col. Nápoles.« Die dritte Aufnahme war die mit der schlechtesten Qualität. Zu sehen waren derselbe Wagen von der Seite, ein Fahrer und eine Frau mit langen dunklen Haaren auf dem Beifahrersitz. Dosantos? , fragte sich Vidal mit angehaltenem Atem.
Montag, 25. November, 21.30 Uhr
Tomás und Amelia
Auf dem Weg zu ihrem Treffen mit Tomás hatte Amelia gedacht, dass es eine gute Idee gewesen war, sich in der Bar vom Sanborns zu verabreden. Das Lokal war spärlich beleuchtet, die leise Musik erlaubte es, sich zu unterhalten, und es gab viele Ein- und Ausgänge, um zu verschwinden, wenn es nötig sein sollte. Doch während sie durch die Bücher- und CD-Regale des Ladens schlenderte, fragte sie sich, ob ihr das Unterbewusstsein nicht einen Streich gespielt hatte. Als sie vierundzwanzig gewesen waren, hatten Tomás und sie sich regelmäßig im Sanborns getroffen, wenn auch nicht in diesem hier, sondern in einem in der Zona Rosa, um anschließend ins Museum oder ins Kino zu gehen, und ausgerechnet in einer Bar dieser Kette hatte sie einen Schlussstrich unter die Beziehung gesetzt, die irgendwann über ein rein freundschaftliches Verhältnis hinausgegangen war.
Sie betrat die Bar und sagte sich, dass Tomás so tief im Strudel seiner Krise steckte, dass er der unglücklichen Ortswahl sicher keine Beachtung schenken würde. Sie entdeckte ihn an einem der hinteren Tische, wo er in Gedanken versunken die Olive betrachtete, die in seinem Cocktail schwamm.
»Einen Martini hatte ich mir auch bestellt, als wir uns das letzte Mal in einem Sanborns getroffen haben. Ich frage mich, wie unser Leben heute aussehen würde, wenn dieses Gespräch damals anders verlaufen wäre. Vielleicht hätten wir jetzt Kinder und ein Zweithaus in Valle de Bravo«, sagte Tomás zur Begrüßung, und seine Ironie war nicht frei von Bitterkeit.
»Oder wir wären uns spätestens drei Jahre nach der Hochzeit fremdgegangen und würden heute kein Wort mehr miteinander reden«, konterte Amelia gelassen. Sie ging zu ihm und zog ihn in eine lange Umarmung.
Der vertraute Geruch und der enge Kontakt mit Tomás’ Körper vermittelten ihr ein so überwältigendes Gefühl von Nachhausekommen, dass sie sich fragte, ob sie damals, vor achtzehn Jahren, nicht doch die falsche Entscheidung getroffen hatte.
»Wie geht es dir? Hast du schon irgendwelche Reaktionen auf deinen Artikel?«, erkundigte sie sich und schüttelte die nostalgischen Gefühle ab.
»Sie haben mir eine Drohung auf mein Handy geschickt. Und ich laufe seit Stunden durch die Stadt, nachdem die Schergen von diesem Gorilla versucht haben, mich im Taxi zu entführen. Ich bin ihnen nur knapp entwischt.«
»Im Ernst? Bist du sicher, dass es nicht ein ganz normaler Raubüberfall war?«
»Glaub mir, das waren keine Taschendiebe. So, wie die aussahen und wie sie sich verhalten haben, waren das eindeutig Agenten oder Auftragskiller.«
»Wenn Salazar die Typen auf dich angesetzt hat, dann wollten sie dich wahrscheinlich an einem vertraulichen Ort dazu bringen, mit ihm oder einem seiner Unterhändler zu sprechen.«
»Dafür müssten sie mich ja nicht gleich entführen, oder?«
»Für sie wäre es von Vorteil, wenn du bei dem Gespräch schon eingeschüchtert bist. Bestimmt ist Salazar jetzt gerade mehr daran interessiert, dich mit ins Boot zu holen und zu erfahren, woher du die Informationen hast, als dich verschwinden zu lassen. Du musst bedenken, dass er nach deiner Kolumne von heute der Hauptverdächtige wäre, wenn dir etwas zustoßen würde. Apropos, woher hattest du überhaupt die Info mit dem Haus von Salazar?«
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