Trotzdem fühlte es sich diesmal anders an. Er hatte die einschüchternde Nachricht während der letzten Stunden aus seinen Gedanken verbannt, obwohl er wusste, dass sie gefährlich war. Irgendwo hatte er einmal gelesen, dass eine Warnung umso ernster war, je knapper und lakonischer sie formuliert war.
Da fiel ihm ein, dass er seine Mailbox noch gar nicht abgehört hatte und holte das jetzt nach. Die ersten sieben Nachrichten waren von ebenso vielen Redaktionsleitern verschiedener Nachrichtensendungen, die achte stammte vom Verlagsleiter seiner Zeitung. Er schaltete sein Handy aus und ging zum Tresen. Unter dem Vorwand, sein Akku sei leer, bat er den Angestellten, das Telefon des Lokals benutzen zu können.
Alfonso Palomar nahm den Anruf sofort entgegen: »Glückwunsch, dein Artikel ist der meistgelesene des Portals.«
»Und hast du schon was von oben gehört?«
»Meinst du mit oben die Regierung oder den Chef?«
»Na ja, beide, nehme ich an.«
»Don Rosendo möchte, dass du ihm noch diese Woche einen Besuch abstattest.«
»Und die Regierung?«
»Wir erwarten dich am Donnerstag um 13 Uhr in der Redaktion, und bring alles mit, was du zu dem Fall hast. Also, ich muss jetzt los zur Titelseitenbesprechung. Pass auf dich auf.«
Offenbar glaubten jetzt alle, ihm zum Abschied ein »Pass auf dich auf« mitgeben zu müssen, was nachvollziehbar war, aber Palomars Ton gefiel ihm trotzdem nicht. Seine Stimme hatte etwas Höhnisches, beinahe Verachtendes, als wollte er sagen: »Das hast du jetzt davon, wenn du deine Nase in fremde Angelegenheiten steckst.«
Ein gewisser Argwohn hatte schon immer zwischen ihnen geherrscht: Der Verlagsleiter hielt den Ruhm, den Tomás mit seiner Kolumne in früheren Jahren erlangt hatte, für unverdient. Bei jeder Neukonzeption der Zeitung wurde seine Kolumne auf immer unwichtigere Seiten verdrängt – zumindest hatte Tomás diesen Eindruck. Die Antipathie beruhte jedenfalls auf Gegenseitigkeit. El Mundo könnte wahrscheinlich eine der bedeutendsten Zeitungen des Kontinents sein, wenn der Verlagsleiter weniger Rücksicht auf die mitunter recht launenhaften politischen Interessen seines Chefs nehmen würde. Aber soweit Tomás wusste, verdankte Palomar den Posten weniger seinen beruflichen Verdiensten als seiner bedingungslosen Loyalität gegenüber Rosendo Franco.
Das vertraute schleifende Geräusch, das Marios hinkender Gang erzeugte, riss ihn aus seinen Gedanken.
»Irgendwelche Neuigkeiten?«, erkundigte sich Mario, während er sich zu ihm setzte.
Tomás hielt sich lieber erst mal zurück. Womöglich war die Drohung, die er erhalten hatte, völlig harmlos, und es gab keinen Grund, dass Mario sich auch noch unnötig Sorgen machte.
»Nichts Besonderes, nein. Ich nehme an, die Polizei hat inzwischen die Berichterstattung übernommen. Morgen ist mein Artikel schon Schnee von gestern. Hoffe ich zumindest.«
»Amelia hat mich angerufen, sie hat sehr geheimnisvoll getan. Jedenfalls will sie sich heute Abend mit dir treffen, um halb zehn in der Bar vom Sanborns in San Ángel. Und du sollst sicherstellen, dass die Luft rein ist. Ich kann leider nicht dabei sein, ich bin mit Olga verabredet.« Die letzten Worte brummte Mario in seinen Bart.
»Alles klar. Also, ich habe mit Jaime gesprochen, und er möchte, dass wir uns alle vier morgen Abend im Reina Victoria treffen. Wenn ich Amelia nachher sehe, sage ich ihr Bescheid.«
»Alle vier?« Marios Miene hellte sich auf.
»Wenn du nicht kannst, ist es auch nicht schlimm. Bestimmt können wir morgen schon wieder über die ganze Sache lachen, und Amelia und Jaime machen sich über meinen unfreiwilligen Ruhm lustig.«
»Natürlich bin ich dabei. Und selbst wenn wir uns nur über dich lustig machen, kann ich mir das auf keinen Fall entgehen lassen.«
Tomás versuchte sich zu erinnern, wann die Blauen das letzte Mal zusammengekommen waren. Das musste vor fünf oder sechs Jahren gewesen sein, auf der Beerdigung von Marios Mutter. Am Abend der Beerdigung hatten sie Mario in eine Bar ausgeführt, um ihn aufzumuntern, aber schließlich hatten sie alle zu viel getrunken und angefangen, sich große Geständnisse zu machen, wie Amelia es genannt hatte. Am Ende hatten sie sich gegenseitig mit Offenbarungen verletzt, zu denen sie sich nie hätten hinreißen lassen sollen, obwohl in Wahrheit wenig gesagt, dafür umso mehr gefühlt worden war. Beerdigungen sind kein guter Zeitpunkt, um sich auszusprechen , fand Tomás, da liegen die Emotionen sowieso blank .
»Ich hoffe, diesmal endet unser Treffen besser als beim letzten Mal«, sprach Tomás seine Gedanken laut aus.
»Bestimmt. Diesmal ist einer von uns in Gefahr.«
Tomás widerstand der Versuchung, sich über Marios Ton lustig zu machen, der ihn stark an Die drei Musketiere erinnerte. Es war nicht nötig, der jugendlichen Naivität seines Freundes einen Dämpfer zu verpassen, und wahrscheinlich hatte der sogar recht – sonst hätten Jaime und Amelia nicht nach so vielen Jahren an ein und demselben Tag Kontakt mit ihm aufgenommen.
Diese Überlegung und Marios ansteckender Enthusiasmus stimmten ihn ein wenig zuversichtlicher. Vielleicht war die unbeabsichtigte Wirkung seiner Kolumne letztlich gar nicht so unglückselig: Auf diese Weise war sie wieder ins Blickfeld gerückt, und vielleicht konnte er die Aufmerksamkeit nutzen, um seiner Arbeit als Kolumnist wieder mehr Gewicht zu verleihen. Das barg natürlich Risiken, aber die schlimmste Gefahr war immer noch der Stillstand, in dem sich sein privates und berufliches Leben derzeit befanden: Ein Tag nach dem anderen verging, ohne dass er wirklich etwas erwartete, während seine Überzeugung wuchs, dass an dem Bahnsteig, auf dem er stand, kein Zug mehr vorbeikam. Und dennoch war unverhofft diese Lokomotive aufgetaucht, die womöglich seine letzte Hoffnung war – vorausgesetzt, sie überrollte ihn nicht.
Er malte sich den vor Tatendrang sprühenden, einflussreichen Journalisten aus, der er sein könnte. Er hatte immer geglaubt, das Talent dazu zu haben, nur leider mangelte es ihm an Ehrgeiz. Vielleicht würde der Überlebensinstinkt ihm die Energie geben, die ihm in seinem Leben seit einiger Zeit fehlte. Aber als Erstes musste er ein paar Dinge regeln.
Tomás verabschiedete sich von Mario und wertete es als einen Glücksfall, dass direkt vor dem Eingang des Cafés ein freies Taxi stand, wie für ihn bestellt. Er nannte dem jungen Fahrer die Straße, in der seine Ex-Frau und Tochter lebten, und überlegte kurz, ob er sich bei Jimena ankündigen sollte, beschloss dann aber, das Handy lieber nicht zu benutzen. Sie würde sicher schon von ihrem Deutschunterricht zurück sein. Ihm war völlig schleierhaft, was seine Tochter dazu antrieb, eine Sprache zu lernen, die in Mexiko von so geringem Nutzen war, aber so war sie nun mal. Sie schien in vielerlei Hinsicht eher Amelias Tochter zu sein als Teresas, die zwar schon vor Jahren die langen Hippieröcke abgelegt hatte, nicht aber die betont lockere, selbstgefällige Art, mit der sie durchs Leben ging. Jimena war da ganz anders, immer souverän und mit schlagkräftigen Argumenten sowie teilweise etwas rigiden Meinungen im Gepäck. Vielleicht war es das, was ihr an der deutschen Sprache so gefiel, dachte Tomás, obwohl er keine Ahnung hatte, ob die deutsche Grammatik ebenso unerbittlich war wie der scharfe Klang dieser Sprache.
Es war früher Abend, der Verkehr auf der Avenida de los Insurgentes war zäh, und es ging nur mühsam voran. Die beiden Fahrspuren glichen langen bunten Schlangen, die sich langsam Richtung Süden bewegten. Die Dichte des Verkehrs hinderte die Autofahrer nicht daran, in einem fort die Spur zu wechseln. Unverzeihlich sind in Mexiko nur zwei Dinge: die Verletzung der Ehre und eine Lücke in einer Autoschlange zu lassen , dachte Tomás, obwohl er sich bei Ersterem nicht mehr ganz so sicher war.
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